Engel des Vergessens - Roman
verschwinden.
Er müsse jetzt nach seinem Vieh sehen, sagt Johi und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Vater und ich sollten auf ihn warten und ihn dann nach Hause begleiten. Seine Frau werde uns etwas zu essen bereiten.
Er werde es sich überlegen, sagt Vater und reicht Johi die Hand.
Nachdem wir allein sind, nimmt Vater Anlauf, um zu den Fichten über der Böschung hinaufzugelangen. Oben angekommen, geht er ein paar Schritte nach rechts und nach links und umkreist die Bäume, die vereinzelt auf der abschüssigen Wiese stehen. Komm herauf, sagt er, ich will dir etwas zeigen. Er hält an einer Stelle und deutet mit dem Fuß auf den Boden. Da ist es, da haben sie ihn eingescharrt. Er zieht eine kleine Kerze, die er wahrscheinlich bei der Kirchentreppe aufgelesen hat, aus der Jackentasche und zündet sie an. Nachdem ich zu ihm getreten bin, setzen wir uns ins Gras. Der Bergahorn verfärbt sich schon, sagt Vater nach einer Weile, jetzt kommt bald der Herbst. Wir blicken in den Graben hinunter und schweigen. Die Grabkerze brennt mit kleiner Flamme hinter dem roten Plastikglas, bis sie unmerklich erlischt.
* * *
In Gedanken ziehe ich den Grenzverlauf zwischen der Luschaalm und der Olševa nach, ein Auf und Ab, eine Wellenlinie, die den Wechsel von hier nach dort eindämmen soll, ein geschriebenes, ein in die Landschaft graviertes Gesetz.
Seit ich denken kann, bewege ich mich im Kraftfeld dieser Grenze. Die Menschen sollen die Grenze hochhalten, wenn sie sich in Sicherheit wähnen wollen, heißt es. Sie sollen nicht den alten Geschichten nachtrauern, denn diese wären imstande, den Frieden zu gefährden. Aber ist der Friede in dieser Gegend überhaupt heimisch geworden oder tragen die hier gesprochenen Sprachen immer noch Uniform? Ist der Friede sichtbar geworden? Kann ein slowenischer Ortsname neben einem deutschen Ortsnamen stehen, mehrdeutiger als eine Friedenstaube, ein Regenbogen, ein Monument?
Der Grenze wegen, die in den Augen der Mehrheit in unserem Lande nur eine nationale und sprachliche Grenze sein kann, muss ich mich erklären und ausweisen. Wer ich bin, zu wem ich gehöre, warum ich Slowenisch schreibe oder Deutsch spreche? Solche Bekenntnisse haben einen Schattenhof, in dem Gespenster herumstehen mit den Namen Treue und Verrat, Besitztum und Territorium, Mein und Dein. Das Überschreiten der Grenze ist hier kein natürlicher Vorgang, es ist ein politischer Akt.
Nach dem Erscheinen meines zweiten Lyrikbandes und dem Abschluss der Dissertation ziehe ich nach Ljubljana. Meine slowenischen Schriftstellerkollegen reden, träumen und debattieren gerade eine demokratische Republik Slowenien herbei, die die Jahrzehnte des Kommunismus vergessen machen soll. Sie wollen die Teilrepublik Slowenien aus der Jugoslawischen Föderation lösen und in die Selbstständigkeit führen.
In der Zeit des politischen Umbruchs in Slowenien wird mir jedoch klar, dass ich die Krise als Gast beobachte und mich wie eine ferne Verwandte fühle, die ihre Angehörigen nach langer Zeit wieder besucht und erstaunt feststellt, dass sie sich verändert haben. Es wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich die politische Wirklichkeit Jugoslawiens nur aus der Literatur, aus wenigen privaten Erzählungen und Besuchen kenne.
Während der Sitzungen des Schriftstellerverbandes geht mir durch den Kopf, warum ich mich so schwach fühle, so gedämpft im Kampf um die so genannte Apotheose des Nationalen − um den Nationalstaat, warum ich den Slowenen zwar einen eigenen Staat wünsche, geradezu inniglich wünsche, mich selbst jedoch heraushalte. Ich hatte als Volksgruppenangehörige, wie es so unbeholfen heißt, doch immerzu Umgang mit nationalen Fragen. Warum diese Zurückhaltung? Weil die Bemühungen der Kärntner Slowenen um den öffentlichen Respekt des Slowenischen in Kärnten Österreich galten und eine Ermutigung zur Öffnung Österreichs waren. Es waren keine Bestrebungen um die Demokratisierung des kommunistischen Jugoslawien oder des noch nicht existierenden Staates Slowenien.
Ich erlebe mein Zögern als Freiheit, aber auch als Verlust, weil ich mich nicht bedroht sehe, obwohl ich die Krise begreife und die Ziele der Schriftsteller teile.
In der Vergangenheit ist meine Familie eine national handelnde Familie geworden, als sie sich gezwungen sah zu reagieren, weil sie durch ihre Zugehörigkeit gefährdet war, weil es um ihr physisches Überleben ging. Entweder die Sprache und die Kultur vergessen und im Deutschen aufgehen, oder sich
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