Engel für den Duke
gearbeitet und nur gelegentlich einen Blick auf die geschwollenen Augen ihrer Arbeitgeberin und deren bleiches Aussehen geworfen. Zumindest hatte sie keine peinlichen Fragen gestellt.
Lily gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Wann immer sie die Augen schloss, sah sie Matilda Caulfields kalten, harten, vorwurfsvollen Blick. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb .
Lily spürte wieder den Kloß in ihrer Kehle. Die Caulfields hatten sie nie wirklich akzeptiert, vor allem Mathilda nicht. Obwohl sie genau wie Jo die Urenkelin eines Earls war, war Lilys Zweig der Familie schon vor Jahren enteignet worden.
Sie versuchte, nicht an Jocelyn zu denken und den Schlag, den sie ihr versetzt hatte. Was machte es, dass Jo einen Liebhaber hatte? Was sie tat, ging nur sie selbst etwas an. Lily lebte nach anderen Moralvorstellungen, und es war einfach unakzeptabel, dass sie mit dem Mann geschlafen hatte, den ihre Cousine heiraten sollte.
Sie war erschöpft und bekümmert und hatte kaum noch die Kraft, den Tag durchzustehen. Sie ging zu einem Stuhl hinter dem Ladentisch und ließ sich daraufsinken. Wie hatte es nur geschehen können, dass ihr Leben so außer Kontrolle geriet?
Voller Schuldgefühle und tief in Gedanken erschrak sie, als es an der Hintertür klopfte. Mühsam erhob sie sich und ging zur Tür. Ihre Beine waren so schwer wie Blei. Sie drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Dann sah sie nach unten zu dem zerlumpten Jungen, der auf ihrer Türschwelle stand.
„Sie sagten, ich dürfte kommen. Haben Sie das ernst gemeint?“
Es war der Waisenjunge, Tommy Cox. Zusammen mit seinem braun-weißen Hund. Zum ersten Mal an diesem Tag erhellte sich ihr Gemüt. „Das habe ich. Komm herein, Tommy.“
Der Anblick des mageren Kindes erinnerte sie an die Zeit, in der sie ein ähnliches Leben geführt hatte. Sie dachte daran, wie verängstigt sie gewesen war, als ihre Eltern gestorben waren und sie zu ihrem Onkel gekommen war. Sie erinnerte sich, wie ihr Onkel sie gelehrt hatte, selbstsicher und stark zu sein, und wie sie diese Zeit überlebt hatte.
Sie trat zurück und gestattete Tommy und Mugs, in das Hinterzimmer einzutreten. „Hast du Hunger?“ Er war so dünn, dass er fast ausgemergelt wirkte. Vermutlich lief ihm schon bei der Erwähnung von Essen das Wasser im Mund zusammen.
„Ich könnte einen Happen gebrauchen. Haben Sie vielleicht auch was für Mugs?“
Ihr wurde warm ums Herz. So hungrig, wie er war, sorgte er sich doch immer noch um seinen Hund. „Ich werde etwas für euch beide finden. Bleib hier.“
Unter all dem Schmutz ist er ein hübscher Junge, dachte sie, als sie die Treppe hinauflief. Wenn ihm niemand half, würde er früher oder später ein Verbrecher werden oder sich prostituieren müssen. Die Furcht vor dem Letzteren war es, die ihren Onkel Jack veranlasst hatte, für sie einen Platz bei ihren Verwandten zu finden.
Sie legte Brot, Käse und etwas Ingwergebäck auf einen Teller und ging wieder nach unten. Tommy und Mugs standen noch genau da, wo sie sie verlassen hatte – ganz nahe bei der Tür, für den Fall, dass sie fliehen mussten.
Sie schob ihr Nähzeug vom Tisch und stellte den Teller vor sie hin. „Fangt an. Bedient euch.“
Eine schmutzige Hand schoss hervor und packte ein Stück Käse und eine Scheibe Brot. Ein Teil ging an Tommy, der andere an Mugs. Innerhalb von Sekunden war das Essen verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Lily hätte Tommy noch mehr angeboten, aber sie hatte Angst, sein leerer Magen würde das nicht vertragen.
Stattdessen schenkte sie ihm ein Glas von der Limonade ein, die sie in einem Krug im Laden aufbewahrte. Tommy hatte es mit wenigen Schlucken geleert.
„Gut?“, fragte sie.
Der Junge nickte nur. Er kaute noch auf den Resten des Ingwergebäcks. Davon hatte Mugs deutlich weniger abbekommen, bemerkte Lily.
„Du kannst über Nacht bleiben, wenn du möchtest. Ich kann uns etwas Eintopf zum Abendessen machen, und morgen früh können wir heiße Schokolade und Kuchen frühstücken.“
Tommy sah sie aus großen Augen an. „Sie würden uns ein Abendessen machen?“
Sie nickte. Ihr Herz schlug auf merkwürdige Art – sie empfand Mitleid und noch etwas anderes. „Und morgen früh heiße Schokolade. Hier ist es viel wärmer als draußen.“
Tommy sah ratsuchend Mugs an. „Was meinst du, Junge?“
Der Hund wedelte mit dem Schwanz, was auf dem Holzfußboden ein klopfendes Geräusch verursachte und wohl ein Ja
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