Engel für den Duke
wäre er ihrem Gedächtnis eingebrannt worden. „Es ist einfach zu gefährlich, Lily“, hatte er gesagt. „Erst letzte Woche hast du die Brieftasche des Mannes fallen lassen und wärst um ein Haar erwischt worden. Du wächst heran, Liebes, und wirst langsam eine Frau. Du sollst ein besseres Leben haben, ein Leben, wie deine Mama und dein Papa es für dich gewünscht hätten. Ich hätte das viel früher tun sollen, aber ich …“
„Was ist mit dir, Onkel Jack?“, fragte sie unter Tränen.
„Du bist meine ganze Familie, Liebes, und ich werde dich vermissen.“
Lily erinnerte sich, wie sehr sie an jenem Tag geweint hatte, und an das schreckliche Gefühl, das sie hatte, als ihr Onkel sie an der Tür von Henry Caulfields Haus zurückgelassen hatte. Seit jenem schicksalhaften Tag hatte sie Onkel Jack nicht mehr gesehen, und sie vermisste ihn. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass er das Richtige getan hatte.
Lily blickte zu Jocelyn hinüber. „Ich werde gleich morgen früh abreisen. In der Zeitung stand, dass ein Sturm heraufzieht, vielleicht gibt es sogar Schnee. Ich möchte dort sein, ehe das Unwetter einsetzt.“
„Nimm die Reisekutsche, Liebes. Du musst sie nur wieder zurückschicken, sobald du dort bist. Falls es regnet oder schneit, werden Mutter und ich ein paar Tage länger warten und aufbrechen, sobald es besser wird. Damit solltest du genügend Zeit haben, um alles in Ordnung zu bringen.“
„Das wird mir sicher gelingen.“ Lily ging zu der Kommode, die ganz in Gold und Elfenbein gehalten war, und sah Jocelyns Nachtwäsche durch, um zu entscheiden, was eingepackt werden sollte. „Wie ich hörte, wird die Tante des Dukes, Agatha, dort sein, um während unseres Besuchs als Gastgeberin aufzutreten.“
„Das nehme ich an. Ich habe sie nie getroffen. Offenbar kommt sie nur selten nach London.“
„Genau wie der Duke.“
Jo verzog das Gesicht, als wäre das ein abscheulicher Gedanke. „Ich bin sicher, das wird sich ändern, sobald wir verheiratet sind.“
Lily lächelte nur und zog ein Nachthemd aus weicher Baumwolle heraus, das am rüschenbesetzten Ausschnitt mit Rosen bestickt war. „Es heißt, der Duke macht einiges her – er soll hoch gewachsen und gut gebaut sein, mit Haar von der Farbe alten Goldes. Wie ich hörte, soll er unglaublich gut aussehen.“
Jocelyn zog eine Braue hoch. „Das sollte er. Ich werde ihn nicht heiraten, wenn er nicht gut aussieht. Nicht einmal, wenn er ein Duke ist.“
Aber Lily vermutete, dass Jocelyn ihn dennoch heiraten würde, egal, wie er aussah. Sie wollte Duchess werden. Sie wollte das Leben weiterführen, an das sie gewöhnt war, wollte die Aufmerksamkeit und die soziale Stellung, die mit diesem Titel verbunden war. Genau genommen wollte Jocelyn alles.
Und dank ihres Vaters, der sie hoffnungslos verwöhnte, pflegte sie das gewöhnlich auch zu bekommen.
„Sie gehen aus, Hoheit?“ Jeremy Greaves, der Butler, eilte herbei, als Royal durch die Eingangshalle zur Tür ging. „Wenn ich mir erlauben darf, Sie darauf hinzuweisen, Hoheit: Ihre Gäste sollten jeden Moment eintreffen. Was wird Ihre Verlobte denken, wenn Sie nicht da sind, um sie zu begrüßen?“
Ja, was wohl? „Ich darf Sie erinnern, Greaves, dass wir noch nicht offiziell verlobt sind.“
„Ich verstehe, Sir. Dennoch wird sie erwarten, dass Sie sie in Bransford Castle angemessen empfangen.“
Zweifellos. Es wäre ein Zeichen außerordentlich schlechter Manieren, wenn er beim Eintreffen der Lady und ihrer Mutter nicht im Haus wäre. Er streifte den Butler, einen grauhaarigen alten Mann mit wässerigen blauen Augen, mit einem Blick und ging weiter. Ihm kam der Gedanke, dass wohl nur wenige Dienstboten mutig genug waren, einem Duke zu widersprechen, aber das galt weder für Greaves noch für Middleton, die beide schon vor Royals Geburt auf Bransford gelebt hatten.
„Wenn sie eintreffen sollte, ehe ich zurück bin“, meinte er, „dann sagen Sie ihr, ich wurde unerwartet abberufen. Sagen Sie ihr, ich werde bald zurück sein.“
„Aber, Sir …“
Royal zog seine Ziegenlederhandschuhe über und ging weiter zur Tür. Greaves eilte voraus, um sie ihm zu öffnen, und Royal trat ins Freie.
In der vergangenen Nacht hatte ein Sturm getobt, doch es hatte nicht geregnet, sondern geschneit. Royal blieb am Treppenabsatz stehen, um den Blick auf die Schönheit der überfrorenen Landschaft schweifen zu lassen. Die Sonne schien, sodass alles glitzerte. Die kreisförmige Auffahrt war von
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