Engel im Schacht
mich, ob ich meine Waffe dabeihätte.
»Ja. Ich hab' sie gestern nachmittag im Treppenhaus gefunden. Beunruhigt dich das?« Er verzog das Gesicht. »Ich persönlich kann mit Waffen nichts anfangen, aber wenn dieser Rowdy wieder auf die Idee kommen sollte zu schießen, ist es wohl besser, wenn du auch eine Waffe hast. Wahrscheinlich weißt du ja, wie man damit umgeht.« »Klar. Mein Dad hat zu viele Kinder gesehen, die sich mit Schußwaffen selbst verletzt haben. Deshalb hat er mich auf den Schießplatz mitgenommen, sobald ich zehn war. Meiner Mutter war das gar nicht recht - er wollte, daß sie das Schießen auch lernt, aber sie wollte nicht mal wahrhaben, daß er eine Waffe trug.« Jedesmal, wenn ich auf dem Schießplatz übe, erinnere ich mich wieder an jene Samstagvormittage, wenn Gabriella wütend und mit stocksteifem Rücken ein Kind ans Klavier setzte, um es zu unterrichten. »Wenn du an deiner Stimme genauso eifrig arbeiten würdest wie mit diesem schrecklichen Spielzeug, könnten wir eine Sängerin aus dir machen, Victoria - einen lebensbejahenden Menschen, keinen todbringenden«, sagte sie jedesmal, wenn ich triumphierend, aber auch mit Schuldgefühlen darüber zurückkehrte, daß ich ins Schwarze getroffen hatte.
Wir fuhren ziemlich schnell durch die leeren Straßen. In der Stadt sind die Menschen immer mit irgend etwas beschäftigt, aber in den Vororten schlafen die Bewohner offenbar länger. Über große Strecken der Dempster Road waren wir das einzige Auto auf der Straße. Es war noch nicht einmal Viertel nach sieben, als wir vom Expressway herunterfuhren und in die Eiston Avenue bogen. Als wir die Montrose Avenue erreichten, zeigte ich Max den Anfang der kleinen Straße, die hinter der Baustelle vorbeiführte.
Er setzte mich Ecke Montrose/Elston ab, wo ich so tun konnte, als warte ich auf einen Bus. Gleich in der Nähe befand sich eine Telefonzelle. Wenn Max in zehn Minuten nicht wieder da wäre, würde ich Conrad anrufen. Im Verlauf der Nacht waren mir etliche Dinge wieder eingefallen, unter anderem die Telefonnummer von Mrs. Rawlings, aber für den Fall, daß ich sie vor Aufregung wieder vergaß, hatte ich die Nummer auf mein Handgelenk gekritzelt.
Ich ging auf dem Gehsteig auf und ab, um meine Muskulatur zu lockern, und summte italienische Volkslieder vor mich hin, um mich abzulenken. Ein Streifenwagen wurde langsamer, um einen längeren Blick auf mich zu werfen. Ich schaute stirnrunzelnd auf die Uhr und spielte die ungeduldig Wartende. Der Wagen fuhr weiter. Aus den zehn Minuten wurden vierzehn. Ich wollte gerade Conrad anrufen, als Max zurückkam. »Ich habe niemanden sehen können, aber ein großer Lieferwagen steht da. Ich bin zweimal dran vorbeigefahren, doch es scheint niemand in der Nähe zu sein. Willst du's riskieren?«
Ich konnte mir nicht vorstellen, warum Gary den Lieferwagen auf der Baustelle gelassen hatte. Irgendwie verunsicherte mich das - das bedeutete, daß er jeden Augenblick aufkreuzen konnte. Also beschlossen wir, die hintere Straße hinunterzufahren und den Wagen südlich der Baustelle zu parken. So konnten wir schnell zum Auto gelangen, wenn tatsächlich jemand käme - dank des Einbahnstraßensystems mußten alle Autos von Norden kommen. Ich versuchte Max zu überzeugen, im Wagen zu warten, von wo aus er Conrad im Notfall mit seinem Mobiltelefon erreichen könnte, aber er weigerte sich standhaft.
Wir warteten ein paar Minuten nicht allzuweit von dem Lieferwagen entfernt, so daß wir die ganze Baustelle überblicken konnten. Als niemand auftauchte, lenkte Max den Wagen ein Stück weiter nach vorne, wo die Überreste einer Tankstelle den Buick verdeckten.
Wir bahnten uns einen Weg durch den Schutt. Den Verkehr von der Eiston Avenue konnten wir zwar nicht sehen, aber hören; bei jedem Wagen, der vorbeifuhr, zuckten wir nervös zusammen. Jetzt tat mir auch mein Kopf wieder weh. Ich merkte, daß es unsinnig gewesen war, auf dieser Fahrt zu bestehen. Als ich gerade anfangen wollte, die Materialien zu inspizieren und die Lieferantennamen zu notieren, warnte mich Max mit einem lauten Flüstern. Ich drehte mich um und erstarrte. Die hintere Tür des Lieferwagens ging auf. Ich bedeutete Max, hinter einem Stapel Bauholz niederzuknien, und holte die Waffe au s dem Holster.
Ein Arbeiter stolperte durch das hohe Gras jenseits der Baustelle zum Pinkeln. Dann ging er zu einem großen Metallbehälter hinüber und machte sich daran zu schaffen. Ein Motor sprang an - offenbar handelte es
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