Engel im Schacht
einem Menschen fast bis zur Taille reichte. Andere machten den Eindruck, als könne man sie sofort benutzen.
Die Schienen für die ehemals von Maultieren gezogenen Wagen waren ordentlich wie die Gleise bei einer Modelleisenbahn unter dem Weihnachtsbaum. Die Kamera schwenkte wieder zu Beth Blacksin zurück, die im Halbschatten vor einer Backsteinmauer stand.
»Einige Gebäude im Loop haben die Eingänge zu den Tunnels schon Vorjahren zugemauert. Altere Gebäude mit kleineren Betrieben haben die Tunnels nie benutzt oder sich den Strom mit einem größeren Nachbarn geteilt.«
Irgendwie kam mir die Backsteinmauer hinter ihr bekannt vor. Ich betrachtete sie so eingehend wie möglich, solange die Kamera darauf blieb. Als sich der Bericht wieder Mary Sherrod am Chicago River zuwandte, schaltete ich den Fernseher aus und machte die Augen zu.
Die Wand hinter dem Boiler des Pulteney - die falsche innere Wand, bis zu der ich mich nie wirklich vorgewagt hatte, weil die Ratten so leicht hindurchschlüpfen konnten. Kein Wunder, daß sie dort ihre Nester hatten. Die Löcher zwischen den Backsteinen waren ihr Zugang zu den Tunnels dahinter. Genau wie für Tamar Hawkings und ihre Kinder. So hatte sie das Pulteney also betreten, ohne daß jemand sie bemerkte. Aber wie kam sie in den Tunnel? Vielleicht durch einen Lüftungsschacht? Oder über das Lager von Marshall Fields' »Down Under Store«? Ich hörte unvermittelt mit meinen Mutmaßungen auf: Tamar und ihre Kinder wußten vermutlich nicht, in welcher Gefahr sie sich befanden. Wenn der Keller der Handelskammer bereits unter Wasser stand, wie sah dann wohl der Tunnel unter dem Pulteney aus?
Ich hastete zum Telefon im Flur und rief Mr. Contreras an. »Ich muß in die Innenstadt und in das Pulteney einbrechen. Dabei brauche ich Hilfe. Glauben Sie, Sie packen das? Es könnte gefährlich werden, weil es im Loop nur so von Polizisten wimmelt.« Er war höchst erfreut, daß ich ihn gebeten hatte, nicht den Grünschnabel, nicht meinen Bullenfreund und auch nicht den Schlaumeier Ryerson, sondern ihn, den zuverlässigen Alten. Er hatte die Nachrichten noch nicht gesehen. Ich sagte ihm, er solle den Fernseher anschalten und sich informieren, weil ich keine Zeit hätte, ihm jetzt alles zu erklären.
»Wir brauchen ein Brecheisen, ein Seil, vielleicht auch eine Spitzhacke, Arbeitshandschuhe und Gummistiefel. Sehen Sie, was Sie auftreiben können. Ich bestelle mir jetzt ein Taxi.«
Er beteuerte aufgeregt, er werde alles besorgen, und legte auf. Ich schlug die Nummer eines lokalen Taxiunternehmens nach. Während ich auf den Wagen wartete, stopfte ich meine wenigen Habseligkeiten in meinen Rucksack, überprüfte das Magazin meiner Smith & Wesson und holte die Ersatzschlüssel aus der Schublade in der Küche. Ich wollte gerade aus dem Haus, als sich mein Gewissen regte.
Also ging ich noch einmal zurück und rief Lotty an. Sie sei bei einem Patienten, teilte mir die Helferin Mrs. Coltrain mit, und dürfe nicht gestört werden.
»Sagen Sie ihr, ich bin unserer vermißten Obdachlosen mit ihren Kindern auf der Spur«, meinte ich. »Wenn ich Glück habe, bringe ich sie später noch in der Klinik vorbei.«
Wieder wollte ich zur Tür und kehrte doch noch einmal zum Telefon zurück: Mein Gewissen überschlug sich fast vor Aktivität. Conrad war weder daheim noch bei seiner Mutter, noch im Revier. Draußen hörte ich das Taxi hupen. Hastig trug ich dem Beamten im Revier auf, er solle Conrad sagen, ich versuche, in die Tunnels des Pulteney zu gelangen, dann sprintete ich den Gehsteig vor Max' Haus entlang, zum Taxi hinüber.
Dead Loop
Der dunkle Loop wirkte wie eine verlassene Stadt aus einem Horrorfilm der Zukunft. Der Stromausfall hatte die Gebäude in schwarze Türme verwandelt, und der Himmel selbst war grau, nur ein weißer Ozonschimmer spiegelte sich auf einer trüben Wolkendecke wider. Normalerweise gingen an einem solchen Tag die Straßenlaternen an. Heute bewegten sich die Menschen fast lautlos durch die Straßen, als bringe der Blackout zwangsläufig Stille mit sich.
Das Parken in der Innenstadt war von einer Minute auf die andere verboten worden. Eine Phalanx von blauen Abschleppwagen fuhr durch die Straßen, um die Fahrzeuge zu entfernen, die unglücklicherweise schon vor dem hastig verkündeten Parkverbot dort abgestellt worden waren. Polizeisperren verhinderten die Zufahrt zu den meisten Straßen, so daß die Autos auf den freigegebenen nur im Schrittempo vorwärts kamen. An vielen
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