Engel im Schacht
war, war es noch schneller verrottet. Der Staub hatte sich zu schmierigem Ruß verdickt und bedeckte nun den Boden, die Wände und sogar die verzierten Messingtüren des Aufzugs.
Wenn die Hawkings tatsächlich nach oben gekommen waren, würden wir ihre Fußspuren in dem Schmutz am Boden sehen. Ich hielt Mr. Contreras mit einer Handbewegung zurück, untersuchte den Boden auf dem Weg, der vom Keller zur Treppe führte, konnte aber nichts entdecken.
Schließlich wollte ich die Tür zum Treppenhaus aufschließen, aber sie war bereits offen. Vielleicht hatte Tamar Hawkings den Schlüssel verwendet, den ich ihr dagelassen hatte. Wenn sie heraufgekommen war und festgestellt hatte, daß das Gebäude mit Brettern vernagelt war, konnte sie in den Schächten verschwunden sein, und dann würden wir sie nie aufspüren.
Wir banden jeder eine Taschenlampe am Körper fest, luden die restlichen Ausrüstungsgegenstände auf den Handwagen und versuchten, ihn die Treppe hinunterzuschieben. Professionelle Auslieferer machten das tagtäglich ohne allzu große Mühe, aber weder der alte Mann noch ich hatten die Rückenmuskulatur für eine solche Übung: Also luden wir den Handwagen wieder aus und trugen die Sachen einzeln in den Keller.
Am Fuß der Treppe hörte ich schon die Ratten. Sie huschten leichtfüßig und furchtlos um die Rohre herum und verständigten sich mit lauten, hohen Quiektönen. Meine Handflächen begannen zu kribbeln. Ich ließ die Sachen fallen, die ich trug. Seil, Hammer und Gummistiefel landeten auf dem Boden.
»Alles in Ordnung, Süße?« Mr. Contreras hastete die Treppe zu mir herunter. »Alles in Ordnung - ich hab' mich bloß von diesen gräßlichen Viechern einschüchtern lassen.«
Ich leuchtete einer großen Ratte in die Augen, die herangekommen war, um sich das Seil genauer anzusehen. Sie starrte mich mit verächtlichem Blick an und wandte sich dann gemächlich ab, als wolle sie sagen: »Ich gehe, weil ich das will, nicht, weil ihr mir angst macht. Wehe, ihr greift mein Nest an!«
»Lassen Sie sich von denen nicht beeindrucken«, brummte mein Nachbar. »Die Kanalarbeiter sind auch den ganzen Tag hier unten - und die werden nie angegriffen. Das machen sie bloß, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.« Das sagen die Leute immer über Ratten, aber ich glaube es nicht. Ich denke eher, sie warten einfach auf eine günstige Gelegenheit. Warum sonst fallen sie Babys an, die in Slums von ihren Müttern allein gelassen werden?
Nervös hob ich die Sachen wieder auf, legte sie auf die unterste Stufe und rannte hoch, um die nächsten Teile zu holen. Die Gummistiefel zog ich im Foyer an. Das erschwerte zwar das Treppensteigen, aber ich fühlte mich damit ein bißchen geschützter. Als wir alles wieder auf den Handwagen geladen hatten, führte ich Mr. Contreras zu der Wand hinter dem Boiler. Das Quieken wurde lauter, je näher wir kamen. Ich atmete tief durch und zwängte mich hinter den Heizofen, dabei versetzte ich zwei rotäugigen Ratten einen Fußtritt, die mir den Weg versperrten. Sie zogen sich ein paar Schritte zurück und beobachteten mich dann. Mit unsicheren Fingern leuchtete ich sie direkt an. Als sie keine Anstalten machten, sich zu verziehen, nahm ich ein Stück Metallrohr aus dem Schutt und versuchte, sie damit wegzustoßen. Sie gaben einen Laut von sich, der sich fast wie ein Knurren anhörte, und zogen sich ein paar weitere Schritte zurück. Der alte Mann hob ein anderes Rohr auf und half mir, einen Weg zu bahnen. »Ich geh' voraus, Süße«, bot er mir an.
Ich schüttelte den Kopf. Ich durfte meiner Angst jetzt nicht nachgeben; schließlich mußten wir noch eine weite Strecke Feindesland hinter uns bringen. Wenn Tamar Hawkings, die lediglich Fetzen am Leib trug, zusammen mit ihren Kindern mit diesen Biestern fertig geworden war, würde ich das auch schaffen. Ich biß die Zähne zusammen und machte einen entschlossenen Schritt nach vorn. Di e Ratten starrten mich einen langen Augenblick an und drängten sich dann an meinen Stiefeln vorbei in den Keller. Der Zwischenraum zwischen Boiler und Wand war gerade breit genug für meine Schultern. Als ich mit dem linken Arm am Metall entlangschrammte, versuchte ich, nicht daran zu denken, was da vielleicht herumhuschte, aber die Haare unter meinem Schutzhelm waren ganz schweißnaß. Ein paar Tropfen liefen mir die Nase hinunter. Mr. Contreras, der gleich hinter mir stand, ermutigte mich weiterzugehen. Als ich an dem Boiler vorbei war, hatten wir so viel
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