Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
»das tut gut.«
Michael lief in Menschengestalt neben mir her. Für gewöhnlich erschien er als hochgewachsener Mann mit langen, dunklen Haaren, doch diesmal trug er das Haar kurz – mit seinem schwarzen Anzug und dem schwarzen Mantel darüber hätte man ihn leicht mit einem Priester verwechseln können. Ich sah auf zu ihm und meinte schmunzelnd: »Ich bewundere deine priesterliche Aufmachung!«
Er schüttelte sich leicht, stellte dann den Kragen seines Jacketts auf und wollte wissen: »Und wie ist das jetzt?« Wir lachten beide.
Ein paar Priester mit Gebetbüchern in der Hand gingen an uns vorüber und grüßten; Michael nickte dankend. Ich lächle heute, wenn ich daran denke, dass eine Nachbarin, die ich nicht besonders gut kannte, sagte, sie habe mich mit meinem Freund gesehen! Ich weiß, dass ich sonst immer nur mit Familienangehörigen zusammen spazieren ging – es war der Engel Michael, den sie gesehen hatte. (Ich erinnere mich an drei Gelegenheiten, bei denen ich alleine unterwegs war, mir aber hinterher Leute erzählten, sie hätten mich mit jemandem gesehen – es muss sich jedes Mal um einen Engel in Menschengestalt gehandelt haben. Vielleicht ist es – ohne mein Wissen – auch noch öfter vorgekommen.)
Engel Michael sagte zu mir: »Lass uns ein paar Minuten dort hinüber zu der großen Eiche gehen, solange niemand sonst dort ist, dann werde ich dir die Vision mit deinem Vater näher erläutern.«
»Michael, bevor du irgendetwas sagst, nimm bitte zur Kenntnis, dass ich stinkwütend bin.«
Michael lachte los und gab zurück: »Oh, Lorna, du bist mir wirklich eine!«
Darauf erwiderte ich: »Ich habe manchmal den Eindruck, ihr alle – ich meine Gott und ihr Engel – vergesst bei alledem, dass ich ein Mensch bin. Wozu muss ich über den Tod meines Vaters Bescheid wissen? Michael, das möchte ich lieber nicht!«
Der Engel sah mich an, Traurigkeit lag in seinen Augen; dann nahm er meine Hand und erklärte mir: »Dein Vater braucht dich, er braucht deine Hilfe, um hinüberzugehen. «
Ich holte tief Atem: »Ich liebe meinen Vater!«
»Lass uns ein paar Schritte gehen«, schlug Michael vor. Er hielt noch immer meine Hand, während wir weiterliefen, und setzte seine Erklärung fort: »Erinnerst du dich an den Tag, als Joe mit den Kindern am Kanal war und du die Vision von deinem Vater hattest? An diesem Tag hat Gott die Seele deines Vaters mit der deinen verbunden – eure Seelen sind verflochten, Lorna. Es wird in wenigen Tagen losgehen: Das Leben deines Vaters wird vom Moment seiner Empfängnis an vor dir ablaufen – wie auf einem Fernsehschirm vor deinen Augen und in deinem Geist, jeden Tag, ohne Pause. Wenn dieser »Film« stoppt, wirst du eine plötzliche Erschütterung spüren, denn in diesem Augenblick löst sich die Seele deines Vaters von deiner. Das wird der Moment sein, wo sie seinen menschlichen Körper verlässt, um in Begleitung der Engel zu Gott aufzusteigen.«
Ich lief neben Michael her und weinte haltlos.
»Lorna, lass mich deine Tränen trocknen.« Als Engel Michael seine Hände zu meinen Augen erhob, wurde mir bewusst, dass wir nicht mehr in Bewegung waren, sondern in einem Lichtkreis standen. Zwischen Schluchzen und Schlucken brachte ich heraus: »Das wird wirklich ganz schlimm werden.«
»Lorna, denk daran, Gott und wir Engel werden dir zur Seite stehen«, tröstete Michael mich und fuhr mit seiner Hand in meine Tasche, um meine Hand zu berühren. »Ich werde dich noch bis zum Ende dieses Weges begleiten, dann muss ich fort.«
Schweigend gingen wir weiter, es war nur eine kurze Strecke, und ich konnte fühlen, wie der Engel mir Kraft gab. Dann drückte er meine Hand und war verschwunden. Ich lief weiter nach Hause und erwähnte diese Begegnung mit Engel Michael Joe gegenüber niemals mit einem Wort.
Wie Michael mir angekündigt hatte, begann nach ein paar Tagen der »Lebensfilm« meines Vaters vor meinen Augen und in meinem Geist abzulaufen: ununterbrochen – mal sehr schnell, dann wieder langsam –, aber er blieb nie stehen. Ich sah die Szenen immer wieder: Paps als kleines Kind mit einem anderen Kind beim Spielen im Matsch, dann als zaundürrer Junge in einer Schulbank, dann als junger Mann mit pechschwarzem Haar am Flussufer sitzend – zusammen mit einer hübschen jungen Frau, in der ich meine Mutter erkannte; Paps beim Reparieren von Fahrrädern in der dunklen Werkstatt in Old Kilmainham, die Verzweiflung auf seinem Gesicht beim Anblick unseres eingestürzten
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