Engel in meinem Haar - Die wahre Geschichte einer irischen Mystikerin
hinten noch einen freien Sitzplatz. Ich nickte ein, bis ich von einem Rascheln geweckt
wurde – mein Vordermann las die Morgenzeitung. Die Schlagzeile sprang mir ins Gesicht: »Junger Mann in Dublin-City erschossen!« Völlig niedergeschmettert schloss ich wieder die Augen.
Als der Bus den Busbahnhof erreichte, stieg ich mit der Menge aus und nahm den Weg über die Brücke in Richtung Mary Street. Ich lief immer weiter, bis ich an einem Geschäft vorbeikam, aus dem ein Radio plärrte. »Ein junger Mann wurde erschossen«, hörte ich gleich darauf den Nachrichtensprecher sagen.
Ich begann zu rennen und als ich in die Parallelstraße zu unserem Kaufhaus einbog, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Es war niemand dort zu sehen. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich Kreidemarkierungen auf dem Asphalt und zerrissenes gelbes Plastikband – es war der Ort, an dem Mark den Tod gefunden, wo man ihn niedergeschossen hatte. Doch außer mir war niemand dort, keine Polizei, keine Menschenseele außer mir! So, als ginge es niemanden etwas an. Ich fror innerlich und der Ansturm meiner Gefühle überwältigte mich.
Im Kaufhaus gab es natürlich kein anderes Thema. Zwar hielt ich mich abseits, um möglichst wenig mitzubekommen, doch gelang es mir nicht, alles völlig auszublenden. Der allgemeinen Ansicht nach hatte der Mord an Mark einen konfessionellen Hintergrund, da seine Freundin aus Nordirland stammte. Doch eines weiß ich sicher: Mark ist direkt in den Himmel aufgestiegen. Wie bei meiner ersten Begegnung mit dem Engel des Todes hatte ich Marks Seele gesehen, wie der Engel sich über ihn beugte und sie berührte: Marks Seele war wunderschön, ein makelloser blauer Kristall. Im Augenblick seines Todes waren die Engel um ihn, natürlich auch der Engel des Todes – außerdem einige bereits verstorbene Mitglieder seiner Familie, und sie alle geleiteten Mark direkt zum Himmel hinauf.
In der Mittagspause rief ich Joe an und bat ihn, mich nach der Arbeit am Hintereingang des Kaufhauses abzuholen.
Ich erzählte ihm, dass ich mir den nächsten Tag freigenommen hatte und wir den Abend gemeinsam verbringen könnten. Mir war immer noch entsetzlich elend und ich brauchte seinen Arm um meine Schultern, damit ich mich ein bisschen besser fühlen konnte. Außerdem war ich sehr schwach auf den Beinen und nicht imstande, alleine zur Bushaltestelle zu laufen. Ich habe Mark nie vergessen.
KAPITEL 10
Die Bombenleger
Joe und ich liebten die Wochenenden: Alle vier Wochen hatte ich ein freies langes Wochenende und Joe regelte seine Dienstpläne mit meinem Vater nach Möglichkeit in Übereinstimmung damit. Ich zog ihn gerne deshalb auf, sagte, er habe Glück, bei meinem Vater beschäftigt zu sein. Schon immer lange im Voraus schmiedeten wir Pläne und zu unseren Favoriten gehörten die Wicklow Mountains und deren Nordausläufer, die Dubliner Berge, und Brittas Bay, ein traumhafter, kilometerlanger Sandstrand entlang der Ostküste, südlich von Dublin.
Als wir, wie so oft, eines Abends gemeinsam mit dem Bus nach Hause fuhren, hatte Joe eine Idee: »Was hältst du davon, nächstes Wochenende zum Sally Gap in den Wicklow-Bergen zu fahren?« Der Sonntagmorgen brach an und Joe erschien pünktlich um neun Uhr am vereinbarten Treffpunkt in der Nähe unseres Hauses – über die Straße an der nächsten Ecke, wo meine Familie uns nicht sehen konnte. Ich hatte ein Proviantpaket mit Schinken-und Käsebroten sowie Äpfeln und einer Tafel Schokolade für uns vorbereitet. Er gab mir einen dicken Kuss und sagte: »Lass uns gehen.« Dann marschierten wir zur Bushaltestelle, gerade rechtzeitig, denn der Bus kam mit uns dort an.
Als wir die Wicklow-Berge erreichten, stiegen alle anderen Fahrgäste ebenfalls aus und schienen auch denselben Weg einzuschlagen wie wir. Ich war überrascht über diesen Ansturm. Zu Joe meinte ich, ich hätte gar nicht gewusst, was für ein beliebtes Ausflugsziel diese Landschaft sei. An diesem Tag wanderten wir etwa anderthalb Kilometer bergauf, über den Pass in ein hoch
gelegenes, von zahlreichen Felsen übersätes Gebiet. Es war einfach herrlich: die Berge um uns herum, die klare frische Luft. Wir kletterten über die großen Felsen, was ich mit Begeisterung tat, wobei mir Joe allerdings ein paar Mal buchstäblich unter die Arme greifen musste, denn ich bin etwas kurz geraten und die Blöcke waren riesig – für Joe alles natürlich kein Problem. Wir hatten jede Menge Spaß.
Auf einem großen Felsen legten wir eine Rast ein,
Weitere Kostenlose Bücher