Engel sterben
hängen. Der Artikel beschreibt die jämmerlichen letzten Lebensjahre eines ehemaligen TV -Stars. Als die stattliche Reihe seiner Filmpartner aufgezählt wird, von denen nicht ein einziger bei der Beerdigung anwesend war, treten Mona Tränen in die Augen. Sie beginnt hemmungslos zu schluchzen.
Doch es ist nicht das Mitleid mit dem einsamen Filmstar, das sie zum Weinen bringt.
Sonntag, 26. Juli, 14.50 Uhr,
Flughafen Sylt
Anja sieht auf die Uhr. Zehn vor drei am Nachmittag. Um drei hat sie den Termin auf der Wache. Es soll ein Phantombild von dem Touristen am Strönwai erstellt werden, der Anja gestern zu ihrer verlorengeglaubten Tochter geführt hat. War es erst gestern? Es scheint Anja, als sei ihre verzweifelte Suche schon Tage her. Alles ist anders seitdem, die Bedrohung ist real geworden und jede Minute, in der es nicht den Schatten einer Spur gibt, eine Qual.
Sven ist vorhin extra für eine Stunde nach Hause gekommen, um auf Mette aufzupassen. Sie waren sich darin einig, die Tochter keine Sekunde mehr allein zu lassen. Die ganze Insel ist im Aufruhr. An jeder Ecke sieht man Polizei, gerade jetzt schaltet der Fahrer im Wagen vor Anja seine Warnblinkanlage ein und tritt stotternd auf die Bremse. Wahrscheinlich der nächste Stau vor einer Polizeikontrolle.
Anja blickt nach links, wo der Inselflughafen liegt. Die Sonne spiegelt sich auf den Flügeln einer gerade aufsteigenden Maschine. Aus der Autoschlange biegen einige in Richtung Flughafen ab. Es sind mehr als sonst, scheint es Anja. Und als sie länger über die Abreisewilligen nachdenkt, wird ihr auch klar, dass sie nicht etwa in der Schlange vor einer Polizeikontrolle steht, sondern dass es sich um die Schlange vor dem Autozug handeln muss, um einen kilometerlangen Stau also, der bis ans Ende der Schnellstraße führen wird, wo der Zubringer zur Autozugtrasse abgeht. Eine Massenflucht hat eingesetzt. Mit der gestrigen Entführung des dritten Mädchens ist die Saison zu Ende gegangen. Die Touristen verlassen die Insel wie panische Hasen. Trotz Jahrhundertsommer, trotz Sonnenschein und Ferienzeit. Wer will sich schon an einem Ort aufhalten, an dem ein Wahnsinniger sein Unwesen treibt?
Nur schrittweise geht es in der Autoschlange voran. Anja weiß genau, sie wird zu spät kommen. Aber die nächste Abzweigung ist sicher noch einen halben Kilometer entfernt. Bei diesem Tempo kann es leicht zehn Minuten dauern, bis sie dort sein wird. Und auch wenn sie dann abbiegt, wird die Straße nicht ganz leer sein. Anja greift zum Handy, um Sven anzurufen. Die Nummer der für die Zeichnung zuständigen Polizeiabteilung hat sie nicht. Aber Sven wird ihre Verspätung ankündigen können.
Sonntag, 26. Juli, 14.55 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
»Scheiße, Sven, du kannst doch jetzt nicht einfach wegbleiben.« Ungeduldig trommelt Bastian Kreuzer auf seine Schreibtischplatte, was ihm einen nachsichtigen Blick aus Silja Blancks schönen Augen einträgt.
»Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis Anja wieder da ist«, antwortet sein Kollege aus dem Hörer. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich meine Kleine hier allein lasse.«
»Nein, so war das auch gar nicht gemeint. Aber habt ihr keine Großeltern? Die könnten die Lütte doch nehmen.«
»Sind im Urlaub. Seit drei Wochen im Schwarzwald. Frag mich nicht, was die da wollen, wo sie auch hier auf Sylt sitzen könnten.«
»Vielleicht können sie das Meer nicht mehr sehen. Was weiß ich. Ist mir auch egal. Viel wichtiger ist: Wir brauchen dich hier. In einer halben Stunde gibt’s eine monströse Konferenz. Komplette Lagebesprechung und Definition des weiteren Vorgehens. Da kannst du nicht fehlen.«
»Werde ich wohl müssen. Du hast ja gehört, was Anja von der Situation auf den Straßen erzählt hat. Alles verstopft. Und fliegen kann ich noch nicht.«
Während Kreuzer noch bemüht ist, seine Wut hinunterzuschlucken, gibt es draußen auf dem Gang ein durchdringendes Stimmengewirr. Silja springt auf und läuft zur Tür. Bastian beginnt, schneller zu reden.
»Also komm, so schnell du kannst, okay? Ich muss Schluss machen, Sven, da draußen ist irgendwas.«
Als Silja die Tür öffnet, stürmen zwei Kollegen herein. In ihren Gesichtern steht Triumph.
»Wir haben den Zauberer!«
»Super!«
Bastian unterbricht die Verbindung, ohne auf Svens aufgeregte Rufe aus dem Hörer zu reagieren. Soll er ruhig ein bisschen auf die Folter gespannt werden.
»Ist er hier?«
»Steht vorn. Wir dachten, du willst ihn bestimmt gleich
Weitere Kostenlose Bücher