Engelsblut
unternehmen, denn es war gar kein Fall. Im Gegensatz zu dem der Aaners, die eindeutig ermordet worden waren. Darauf mussten Horndeich und sie sich nun konzentrieren. Aber wenn sie der Leibnitz jetzt nicht zuhören würde, würde die wahrscheinlich wieder zu Zumbill rennen. War nicht ihr Problem. Aber vielleicht würde es der Frau vor ihr ein wenig innere Ruhe zurückgeben, wenn sie ihr jetzt noch diese paar Minuten schenkte. Und gestern noch hast du dich selbst gefragt, ob diese Mutter wirklich einfach so ihr Kind zurückgelassen hat , erinnerte sie ihr inneres Stimmchen an die vergangene Nacht. In der Nick ihr die SMS geschickt hatte. Woran sie jetzt gar nicht denken wollte.
Ihr kurzes Zögern fasste Frau Leibnitz wohl als Aufforderung auf: »Ich habe Susanne vor zehn Jahren kennengelernt. Wir haben zusammen bei der Post am Luisenplatz angefangen. Es gab einen Crash-Lehrgang von drei Monaten, dann haben wir am Schalter losgelegt. Und – sie hatte eine echt beschissene Kindheit.«
Oh nein, jetzt nicht diese Nummer, dachte Margot. »Können wir das ein bisschen abkürzen?«
Sonja schien für einen Moment beleidigt, dann sagte sie jedoch: »Okay, ich verstehe, Sie haben keine Lust, dass ich Ihnen Sonjas Lebensgeschichte erzähle. Hab ich auch gar nicht vor. Geben Sie mir zehn Minuten. Wenn ich Sie dann nicht davon überzeugen konnte, dass sich Susanne nicht selbst umgebracht hat, dann werde ich Sie nicht mehr belästigen. Aber das bin ich ihr schuldig. Und Sie wollen doch auch nicht, dass jemand mit einem Mord durchkommt, oder?«
»Bitte«, sagte Margot nur und sah auf die Uhr. Zehn Minuten. Wenn es denn sein musste.
»Mit schwerer Kindheit meine ich, dass Susanne sich, seit sie fünf war, allein durchgeschlagen hat. Ihr Vater war schwer krank, bettlägerig, ihre Mutter hat ihn gepflegt, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das hat sie fertiggemacht. Das Geld war knapp. Und der Vater wurde mit zunehmendem Alter plemplem und dann aggressiv. Die Mutter auch. Und die ließ ihren Frust an Susanne aus. Die ertrug das, irgendwie, verbarg die blauen Flecke. Und als sie zwölf war, fing sie an mit Selbstverteidigung. Ein Jahr später landete die Mutter im Krankenhaus, weil Susanne ihr zwei Rippen gebrochen hatte. Susanne kam ins Heim. Schaffte die Realschule und fing mit mir bei der Post an. Denn das bedeutete sofort Geld auf die Kralle.
Sie wollte eigentlich noch eine Ausbildung machen, hatte Geld auf die Seite gelegt. Doch dann hat sie vor sechs Jahren James kennengelernt, einen GI, einen Bär von Mann. Anfangs war alles eitel Sonnenschein. Sie verbrachten eine schöne Zeit, er hat sie sogar einmal mit in die Staaten genommen. Zurück in Darmstadt, sind sie zusammengezogen. Und von da an ging’s bergab. Ihre Vorstellungen vom Zusammenleben gingen ziemlich weit auseinander. Er wollte eine Frau, die das Haus in Schuss hält, viele Kinder kriegt – und das war’s dann auch. Susanne aber war immer ihr eigener Herr gewesen. Als sie sich nicht fügen wollte, schlug er sie. Nach wie vor wusste sie sich zu verteidigen – aber nicht gegen einen im Nahkampf ausgebildeten Zwei-Meter-Schrank.
Dann wurde sie schwanger. Er wollte sie heiraten. Sie ihn nicht. Und »wilde Ehe« mit Kind – das ging für ihn gar nicht. Also verließ er sie. Susanne verbrachte ein Drittel der Schwangerschaft im Bett, weil sie immer wieder Blutungen bekam. Die Geburt selbst war auch eine Quälerei, Sophie war vierundfünfzig Zentimeter groß und wog vier Kilo – ganz der Papa. James interessierte sich nicht für das Kind, hatte jetzt eine andere Freundin. Doch auch das klappte nicht. Dann wurden die amerikanischen Soldaten aus Darmstadt abgezogen. Er fragte Susanne noch einmal, ob sie ihn heiraten und mit ihm in die Staaten gehen würde. Aber sie blieb – zweimal Krankenhaus wegen gebrochener Knochen war genug.«
Sonja machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: »Auch in dieser Zeit hat Susanne nicht eine Sekunde an Selbstmord gedacht – und glauben Sie mir, es gab Momente, da hat mich das gewundert.«
Margot musste zugeben, dass Sonja Leibnitz’ Schilderungen nicht das Bild einer Frau zeichneten, die schnell aufgab.
»Dann lernte Susanne Reinhard kennen, vor etwa zwei Jahren. Auch hier wieder das große Glück. Ich und Helmuth – das ist mein Mann – haben immer wieder die Kleine genommen, wenn die beiden mal ein Wochenende allein wegfahren wollten. Na, dann sind sie zusammengezogen. Und wieder nahm das Drama seinen Lauf.
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