Engelsblut
Sandra mit dem dicken Schwangerschaftsbauch nicht mehr arbeiten gegangen war. Jetzt sorgte Sandra dafür, dass er etwas zu essen bekam, dann gingen sie gemeinsam spazieren, eine Runde um die Häuser. Stefanie lag dabei im Kinderwagen, und Che, der Mitbewohner auf Zeit, konnte die Umgebung beschnüffeln und Platz schaffen für sein Futter, das er am Nachmittag bekommen würde.
Sie gingen Hand in Hand, Horndeichs Linke lag auf dem Griff des Kinderwagens, und Sandra hielt die Hundeleine in der Rechten.
»Oh, was für ein schönes Wetter heute«, sagte Sandra leichthin, und Horndeich konnte ihr nur zustimmen. Bilderbuchwetter einer Bilderbuchfamilie bei einem Bilderbuchspaziergang. Er erinnerte sich kurz an die Zeit, als er fünfzehnjährig durch den Altonaer Volkspark geheizt war. Mit seinem frisierten Mofa. Er hatte seine Mutter mit einem anderen Kerl erwischt; der Vater war ausgezogen, obwohl er todkrank war. Als kleiner Junge war er mit den Eltern durch den Park spaziert. Mit fünfzehn war er dann der Rächer, der das verlogene Bild der elenden Spießer enttarnen wollte. Und Pärchen mit Kinderwagen und Hund waren für ihn der Inbegriff dieser zur Schau gestellten Spießigkeit. Mehrmals hatte er solche Keimzellen der verlogenen Gesellschaft ins Visier genommen und attackiert. Mit dem Mofa drauflos, knapp am kläffenden Köter vorbei, beim nächsten Angriff den Kinderwagen knapp gestreift. Da fiel sie dann, die Maske der Spießerpapas, die ihn wüst beschimpften und mehr als einmal die Bullen riefen, wenn die unflätigen Schimpfkanonaden verebbt waren.
Nun war er selbst so ein Spießerpapa geworden, mit Kinderwagen, Hund und einer Frau, die sagte: »Oh, was für ein schönes Wetter heute.« Und er wusste, wenn ihn heute so ein Mofafahrer attackieren würde, er würde genauso reagieren wie die Familienpapas seinerzeit. So änderten sich die Zeiten und die Perspektive. Doch in einem hatte er als Jugendlicher recht gehabt: Oft war es ziemlich marode hinter der schönen Fassade.
Che schlug sich in die Büsche, und Horndeich beobachtete den kleinen Kerl. Er hatte nie einen Hund haben wollen. Doch Che hatte es geschafft, sich einen Platz in Horndeichs Herz zu buddeln. Sandra hatte sich immer schon einen Hund gewünscht, wenn auch eher ein Basset ihre Wunschrasse gewesen wäre.
Ihre Runde dauerte immer etwa fünfundzwanzig Minuten. Mein Gott, entsetzte sich Horndeich, das ist ja wohl der Gipfel der Spießigkeit, dass ich meine Uhr nach meinem Spaziergang stellen kann? Darüber wollte er lieber nicht weiter nachdenken.
Er wollte nicht mehr mit ins Haus gehen, verabschiedete sich von Sandra mit einem Kuss. Doch die zog ihn in Richtung Hauseingang.
»Ich habe noch ein bisschen Zeit.«
»Du hast Zeit? Ich bin doch der, der gleich wieder im Präsidium antanzen muss.«
»Und ich will Doro und ihren Freund nachher zum Flughafen fahren.« Sandra sah auf die Uhr. »Wir haben noch dreiundzwanzig Minuten.«
Das hatte Horndeich völlig vergessen. Hatte er gestern nicht noch zu Margot gesagt, dass die ein oder andere weitere Leiche sie davon abhalten könnte, zum Flughafen zu fahren? Manchmal holte die Realität die Gedanken ein.
Aber dreiundzwanzig Minuten waren dreiundzwanzig Minuten.
Die Abteilung saß wieder in Margots und Horndeichs Büro gequetscht.
»Hi«, grüßte Horndeich.
Da alle eine mehr oder weniger volle Tasse Kaffee in der Hand hielten, nahm Horndeich an, dass sie noch nicht allzu lange zusammensaßen. Also steuerte auch er zunächst auf die Kaffeemaschine zu.
»Sitzung?«, fragte er.
Margot nickte.
Seit ein paar Wochen war die Frage angebracht, denn Besprechungen konnten derzeit so gut wie nie in den dafür vorgesehenen Räumen stattfinden. Stück für Stück und Stockwerk für Stockwerk wurde das Gebäude renoviert. Im Moment waren die Besprechungsräume an der Reihe. Neuer Boden, neue Farbe, neue Fenster. Geballter Informationsaustausch fand nun also auch in den Büros statt.
»Du bist zu spät«, tadelte Margot ihren Kollegen.
»Sorry«, sagte der. »Stau auf der Rheinstraße.«
»Und vor Langeweile hast du dir das Hemd auf-und zugeknöpft?«, fragte Baader breit grinsend.
Horndeich schaute an sich hinab und erkannte, warum sich das Hemd so komisch anfühlte. In der Hektik, neunzehn Minuten nachdem ihn Sandra in den Hauseingang gezogen hatte, hatte er das Hemd falsch zugeknöpft. Als ob Sandra seine Gedanken erraten hätte, hatte sie ihm deutlich vor Augen geführt, dass ihnen zum Spießertum doch
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