Engelsblut
Sie mir vielleicht etwas sagen können.«
»Gern, jederzeit.«
Horndeich überlegte kurz, ob er einen Frontalangriff starten oder ob er noch eine Weile die freundliche Variante der Befragung wählen sollte. Er entschied sich für Letzteres. Fast zumindest.
»Herr Aaner, Ihr Bruder, er besaß eine Gutenberg-Bibel. Was hat es damit auf sich?« Horndeich wollte zuerst ein paar Hintergrundinformationen, bevor er Aaner mit dem Rechtsstreit konfrontierte.
»Oh, Sie sind auf diesen unerfreulichen Briefwechsel gestoßen. Nun, das musste früher oder später passieren.«
»Warum haben Sie mir bei unserem letzten Gespräch nichts darüber erzählt?«
»Ach, Herr Horndeich. Ich habe es kurz erwogen. Aber man muss kein Polizist sein, um in dieser Auseinandersetzung ein Motiv zu entdecken. Ich habe mich mit meinem Bruder um die Bibel gestritten. Jetzt ist er tot, seine Frau auch – und damit erbe ich diesen Schatz.«
»Ja, so sieht es aus.«
»Wenn Sie die Korrespondenz aufmerksam studieren, dann werden Sie schnell sehen, dass ich die Bibel nicht für mich allein haben wollte.«
»Wie kommt man an so eine Bibel?«
Alexander Aaner goss seinem Gegenüber eine weitere Tasse Kaffee ein, dann sich selbst.
»Mein Bruder und ich, wir sind die letzten Glieder einer langen Pfarrerdynastie. Die nun zu Ende ist. Ich werde keine Kinder haben …«, er blickte kurz in Richtung des Fotos von ihm und seinem Lebensgefährten, »… und Paul hat keine hinterlassen. Ich habe in den vergangenen drei Jahren sehr gründlich Ahnenforschung betrieben. Die Bibel wird das erste Mal in einem sehr alten Brief erwähnt. Sie gehörte einem Pfarrer, Siegfried Aaner, der nach der Reformation zum Protestantismus konvertierte und heiratete. Nun, dieser Aaner war der Urvater einer langen Linie von protestantischen Pfarrern. Und die gaben die Bibel immer an den erstgeborenen Sohn weiter. 1850 brach der älteste Sohn mit der Tradition, Pfarrer zu werden, und wurde Unternehmer. Der Gründer der Spedition »Sebastian Aaner«. Sein Sohn stieg später in die Firma ein. Und der letzte Sohn, der von seinem Vater dieses Geschäft übernahm, war unser Vater Frank, der bis kurz vor seinem Tod vor zwei Jahren dem Unternehmen vorstand. Er hat die Firma verkauft, nachdem klar war, dass weder mein Bruder noch ich das Unternehmen weiterführen würden.
Als mein Vater starb, vermachte er sein Vermögen zu gleichen Teilen an uns beide. Und er folgte der Tradition, die alte Bibel, die in den vergangenen Generationen einfach nur ein durchlaufender Posten gewesen war – so unglaublich das klingt –, dem Ältesten zu vererben. Aber keiner wusste mehr, wo sie war.
Mein Bruder kümmerte sich um die Haushaltsauflösung. Er stand plötzlich mit der Bibel unter dem Arm vor mir und fragte mich, ob ich ihm sagen könne, was das Teil wert sei. Ich habe in Stuttgart Bibliothekswesen studiert und danach noch ein paar Semester Ältere Deutsche Philologie in Würzburg. Vor zwanzig Jahren habe ich die Stelle als Bibliothekar an der Hofbibliothek hier in Aschaffenburg bekommen. Und wir haben hier eine Gutenberg-Bibel. Deshalb wusste ich sofort, was ich da vor mir hatte, wenn ich es auch kaum glauben konnte. Es gab bis dahin genau neunundvierzig bekannte Gutenberg-Bibeln auf der Welt. Von hundertachtzig ehemals gefertigten Exemplaren. Hier war nun die fünfzigste. Es ist zudem eine Bibel aus Pergament. Davon wurden nur dreißig Stück hergestellt, wovon derzeit noch zehn existieren. Das Buch ist eine Sensation. Und mehrere Millionen wert.«
»Was hat Ihr Bruder dazu gesagt?«
»Er war völlig aus dem Häuschen. Fand es cool, dass das Buch so viel mehr wert war, als er erwartet hatte. Großzügig bot er mir dreißig Prozent des Erlöses an. Nun, darüber haben wir uns dann richtig in die Haare gekriegt.«
»Über Ihren Anteil?«
»Quatsch. Darüber, was mit dem Buch geschehen sollte. Paul wollte sofort Sotheby’s in London anrufen. Ein Buch stellt für ihn keinen Wert dar. Aber er hat schon glänzende Augen bekommen, als er nur daran dachte, welche Autos er dafür bekommen würde. Er hatte ein Auge auf einen Duesenberg geworfen. Der ihn sicher eine Viertelmillion gekostet hätte.«
Ein Auto für eine Viertelmillion Euro. Für einen Moment fragte sich Horndeich, was er mit einer Viertelmillion machen würde. Er würde sich wahrscheinlich einen SRT6 kaufen, um mit Hinrich gleichzuziehen. Seiner Frau ebenfalls 20 000 Euro geben. Und den Rest anlegen, in der Gewissheit, dass die
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