Engelsblut
Aber jedes Wort hätte die Perfektion des Moments nur gestört und abgewertet.
Nach ein paar Sekunden sagte er stumm: »Danke«. Er kannte den Adressaten des Wortes nicht. Aber er war sicher, dass der ihn gehört hatte. Dann löste er die Umarmung.
Sandra sah ihn schweigend an. Lächelte. Horndeich stand auf. Ging zu dem Schrank, wo Sandra und er ein paar Fotos aufgestellt hatten. Familienfotos. Ein Bild von Stefanie. Ein Bild von Stefanie und den stolzen Eltern. Dann ein Hochzeitsfoto. Horndeich hatte gedacht, dass es nicht nötig wäre, einen Hochzeitsfotografen zu bestellen. Sie hatten vier DVDs voller Bilder, die ihnen Bekannte geschickt hatten, aber keines war wie dieses. Er im schwarzen Anzug, Sandra im weißen Kleid. Er liebte dieses Bild, da es dem Fotografen tatsächlich gelungen war, exakt im richtigen Moment abzudrücken. Beider Blick war voller Liebe. Wenn die Indianer früher geglaubt hatten, dass ein Stück der Seele des Menschen auf jeder Fotografie gebannt wird, dann war dieses Bild ein überzeugendes Indiz für die Wahrheit der These.
»Was ist denn heute mit dir los? Alles okay?«
Horndeich sah zu Sandra. »Ja. Alles gut. Es ist einfach nur alles gut.« Er wandte sich wieder zu dem Hochzeitsbild um. »Gut, dass du auf den Fotografen bestanden hast. Ich mag dieses Bild. Du im weißen Kleid …«
Horndeich hielt inne. Das weiße Kleid. Das war es!
»Den Blick kenne ich. Da hat jemand eine Erleuchtung.« Sandra grinste. Und Stefanie gluckste.
»Ja. Ich glaube, ich hab’s. Wärst du arg sauer, wenn ich mal kurz ins Präsidium …?«
»Fahr nur. Aber um eins gibt’s Essen. Und wenn du dann nicht da bist, dann bin ich sauer.«
»Danke«, sagte Horndeich und küsste sie zum Abschied. »Bis gleich!«
Fünfzehn Minuten später fuhr er im Präsidium den Bürorechner hoch. Er rief das Bild von Nadeschda Pirownika auf, das die Kamera des Juweliers aufgenommen hatte. Und dann klickte er auf die Dateien, die Bernd Riemenschneider von Aaners Festplattenspeicher gerettet hatte. Die mit den Frauenporträts.
Er fand sie in der zweiten Datei. Sie war Nummer 30. Die Frau, die sich als Eizellenspenderin anbot und auf dem Bild im Hochzeitskleid zu sehen war, an der Seite ihres Mannes. Aber ihr Name war nicht mit »Nadeschda« oder »Nadja« angegeben, sondern sie hieß »Larissa«. Und ihr Haar war dunkel und nicht blond wie auf dem Bild, das die Kamera des Juweliers aufgenommen hatte.
Dennoch: Es gab keinen Zweifel. Larissa war in Wirklichkeit Nadeschda Pirownika. Die Namen in der Liste waren also Phantasienamen wie bei vielen anderen Seiten im Internet, auf denen die Menschen lieber anonym bleiben wollten. Daher hatten sie sie bei der Suche nach dem richtigen Namen auch nicht finden können. Horndeich ärgerte sich über sich selbst. Darauf hätte er auch früher kommen können.
Er rollte mit dem Bürostuhl zurück, sah auf das Whiteboard. Konnte darin ein Motiv begründet sein? Nadeschda hatte Eizellen gespendet. Die wurden Regine Aaner eingepflanzt. Doch die Schwangerschaft blieb aus. Und die Aaners wollten nicht bezahlen. Also reiste Nadeschda nach Deutschland, um sich das Geld zu holen. Aber wie war es zu all den Messerstichen gekommen?
Horndeich griff zum Telefonhörer. »Bernd, entschuldige, dass ich dich am Samstag störe.«
Riemenschneider schien nicht besonders erbost zu sein. »Alles okay. Meine Frau hat heute Mädelstag. Sie ist mit zwei Freundinnen in der Stadt und kommt erst heute Abend zurück. Wo brennt’s?«
»Ich habe Nadeschda gefunden. Sie ist eine der Eizellenspenderinnen. Die im Hochzeitskleid. Aber sie hat dort einen falschen Namen.«
»Cool. Wieder einen Schritt weiter.«
»Ja. Aber mir fehlt immer noch die direkte Verbindung zwischen Nadeschda Pirownika und den Aaners.«
»Und jetzt komme ich ins Spiel und soll sehen, ob ich nicht doch noch irgendeine Information aus der Seite herauskitzeln kann.«
»So in etwa.«
»Bin in zehn Minuten da.«
»Super. Bis gleich. Kaffee mit Milch, oder?«
»Genau. Und zwei Löffeln Zucker. Die Mini-Zuckerportion von unserer Chefin – das ist nichts für mich.«
Wobei Horndeich nicht sicher war, ob Margot in Zukunft nur noch bei einem halben Löffel Zucker bleiben würde …
Horndeich braute zwei Tassen Kaffee, dann setzte er sich wieder auf den Bürostuhl. Die Verbindung zu den Aaners, das musste sich doch irgendwie beweisen lassen. Irgendwo in diesen ganzen Stapeln von Papier und Bits und Bytes auf ihren Datenspeichern musste diese
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