Engelsblut
Zunge über sie. Erst als sie ihre Füße erreicht und ihre Zehen umspielt hatte, richtete er sich auf.
»Wirst du mit mir gehen?«, fragte er.
»Ich will darüber nachdenken«, antwortete sie.
Im Dunkeln an die Wand gelehnt stand Samuel. Seine Augen glichen schmalen Furchen, als er beobachtete, wie Grothusen Lenas Zimmer verließ.
»Du sollst sie nicht haben«, murmelte er, als der andere leichtfüßig im Gang verschwunden war.
Grothusen nachblickend wurden ihm die Augen noch schmaler, und er weitete sie erst wieder, als er hinging, um nach dem Doktor selbst Lenas Zimmer zu betreten. Wie jener tat er es zum ersten Mal, seitdem sie im Palais Hagenstein lebten; er blickte über Stunden auf die derweil Schlafende. Als milchflüssiges Dämmerlicht aufzog, erwachte sie und gewahrte ihn.
»Was tust du hier?«, fragte sie verwirrt.
Sie lag noch immer nackt und tat nichts, sich zu bedecken.
Unverwandt starrte Samuel auf ihre Gestalt, die ihm fremd erschien; er schnupperte argwöhnisch die Lust, die Grothusen ihr bereitet hatte. Er fühlte den Kunsthändler mit seinen wissenden Händen und hungrigen Lippen noch bei ihr weilen – und dessen leiser Geruch ließ ihn daran denken, dass jener Menschen bestochen hatte, auf dass sie seinen Engelbildern huldigten, und dass er mehr Leidenschaften lebte, als Samuel jemals malen konnte.
Ungelenk, aber hasserfüllt und rachsüchtig begann Samuel um Lena zu werben. »Du darfst nicht gehen wie Andreas!«, befahl er, duckte sich vor ihrem bloßen Körper, aber wollte nicht weichen, ehe sie Andreas’ Lücke füllte.
Nachlässig bedeckte sich Lena, immer noch verwirrt von der Nähe, die er plötzlich suchte.
»Du sollst an meiner Seite sein dürfen wie die anderen Künstler«, fuhr Samuel fort, trat tiefer in den Raum und maßte sich an, hierher zu gehören – viel mehr als Grothusen. »Du sollst mir beim Malen zusehen. Vielleicht kann ich nur an deiner Seite einen Engel malen, so wie ich Menschen malte, und damit erreichen, dass man bebt, schreit, weint.«
Sein Zugeständnis an ihre Bedeutung war nicht in sanfte Töne gekleidet. Seine Stimme klang hart und streng. Dennoch blickte er Zustimmung heischend und suchte sie zuletzt mit einem schmalen Lächeln zu bestechen und seinem Feind zu entziehen.
Wiewohl sie nicht mehr nackt lag, begann Lena zu frieren.
»Warum willst du das?«, fragte sie.
Samuel war ein schwarzer Schatten im Morgengrauen.
»Ich habe dir verziehen, dass du meinen Finger gebrochen hast«, sagte er. »Ich brauche dich, denn du warst von der ersten Stunde an an meiner Seite. Wirst du mir die Treue halten?«
Seine Sätze füllten das Zimmer aus und vertrieben den Duft ihrer Lust. Zögernd fügte sie sich ihnen – und Samuel wusste, dass sie ihm gehörte, was hieß, dass Grothusen niemals ihre Liebe erringen würde.
»Bitte!«, flehte er beschwörend.
»Ich will darüber nachdenken«, antwortete sie.
Drei Monate nahmen sie das Blut von Kindern. Drei Monate lang näherte sich Samuel manchmal den Kleinen, streichelte ihnen tröstend über das Gesicht und wischte Tränen von ihren Wangen, gleich so, als hätte er sich nie gescheut, einen Menschen zu berühren. Eben jene drei Monate dachte Lena nach, wie sie entscheiden sollte, und blickte Samuel ratlos zu, wie er um die Kinder strich und ihre Zartheit lobte und mehr noch das helle, rote Blut, das aus ihren Adern floss. Grothusen beobachtete Lena und wartete auf ein Zeichen, dass sie sich gegen Samuel kehren möge und dass sie gleiches Grauen wie er erlebte, wann immer der Künstler sich mit den Kleinen abgab, keine Grenze errichten mochte zwischen ihren Leibern und dem seinen und manches Mal nicht nur streichelte, sondern den geschwächten kleinen Körper an sich zog, als wolle er dessen Wesen in sich aufsaugen.
Lenas Zeichen blieb aus. Wiewohl sie den Fischersohn nicht von sich wies und gern erlaubte, dass er sie des Nachts besuchte, wartete sie, dass Samuel einen Engel malte, so wie er Menschen malte, und während sie wartete, blieb sie an seiner Seite.
Manchmal passte Grothusen sie ab, wenn sie Samuels Kammer verließ.
»Warum gehst du nicht von ihm?«, fragte er zittrig. »Warum kommst du nicht endlich mit mir?«
»Ich werde mich entscheiden«, sagte sie zögernd, »aber dräng mich nicht. Ich bin es, die ich mir meinen Mann erwähle.«
In der Zeit, da die drei Monate sich dem Ende neigten, geschah es, dass eine fremde Frau im Palais von Hagenstein erschien, die das Warten beendete.
Susanna
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