Engelsblut
Fischgestank entflohen war, »der Mensch verhungert, wenn er nur mehr danach trachtet, etwas zu fressen zu bekommen und sich den Wanst vollzuschlagen.«
»Nicht wahr«, sagte Susanna glücklich, »es kann doch keine ausreichende Beschäftigung sein, Tag für Tag sein Kapital zu vermehren. Oft habe ich mich bemüht, ihn zu locken, ihm zu zeigen, was die Welt an Schönem zu bieten hat. Er aber verspottete die Künstler, die ich einlud. Taugenichtse nannte er sie.«
Dass sie sich auf ihn stützte, machte Grothusen stark. Es ließ ihn leichter ertragen, dass Lena sich ihm nicht endgültig zuwandte. »Hat er sich nie – wenn auch nicht von der Kunst – von Eurer Schönheit rühren lassen?«, fragte er.
Susanna trippelte mit kleinen Schritten neben ihm her. »Keineswegs!«, rief sie aus, und ihre Stimme klang atemlos. »Er hat mich genossen, wenn er die Zeit dafür hatte. Mehr als einen winzigen Teil seines Lebens habe ich jedoch nicht bekommen. Ich war ihm eine zweckdienliche Anschaffung!«
Sie begann ihm Leid zu tun wie in der ersten Nacht. Er stützte sie fester.
»Er bewertet die Menschen nach dem Nutzen, den er aus ihnen ziehen kann«, fügte sie hinzu.
Sein Mitleid fühlte sich unaufdringlich an. Es drängte ihn nicht, sie zu packen und festzuhalten – lediglich, sie zu leiten und ihren Weg zu bestimmen, sie zu umsorgen und von Samuels Welt fern zu halten.
»Ich hatte darunter zu leiden«, meinte sie dann, »aber ich habe es ihm heimgezahlt.«
Sie war stehen geblieben und löste sich von ihm. Die feine Haut des durchsichtigen Gesichts war von der kalten Luft gerötet. Der Winter, der vor wenigen Wochen eingesetzt hatte, geizte mit Schnee, aber atmete mit eisigem Hauch.
»Ja«, wiederholte Susanna, und ihre Stimme zischte, »ich hab’s ihm heimgezahlt. Zwei weitere Kinder habe ich ihm geschenkt, Rudolph und Pauline, aber der erste Sohn war ihm immer der liebste. Nathanael war ihm ähnlich.«
Grothusen neigte sich vor, um ihren Umhang festzuziehen und sie zu wärmen.
»Er starb mit zehn.« Susannas Auflachen klang schadenfroh. »Das Leben lässt sich nicht berechnen wie Wilhelms Kalkulationen. Es hat ihm das liebste Kind gestohlen, und er vermochte es sich nicht zurückzukaufen. Er hat sich tagelang eingeschlossen, und ich habe ihn zum ersten Mal weinen gesehen.«
Grothusen trat zurück. »Es muss auch für Euch schwer gewesen sein, das Kind zu verlieren«, warf er ein.
Herrisch schlug sie seine Hände weg, die an ihrem Umhang nestelten. Wieder lachte sie spöttisch auf.
»Nicht doch!«, rief sie bitter. »Ich habe es ihm aus ganzem Herzen gegönnt! Er spottete über mein Leben, was sollte ich mich um seines scheren! Nathanael war sein Sohn. Mit seinem Tod musste er zurechtkommen, nicht ich.«
Grothusen starrte von Susannas Gesicht weg auf den Boden. Die Wiese war blass, als habe Gott ihre Farbe mit Grünspan und Essig zersetzt.
»Lasst uns hineingehen«, sagte er.
Er begann zu frieren. Es ging ihm auf, dass Susanna Bringsheim nicht nur der zarteste, sondern der rachsüchtigste Mensch auf der ganzen Welt war.
Später an diesem Tag entschied er, kein Mitleid mehr zu haben. Er gab die feine, zarte, mitleidslose Frau ab. Er lockte sie, mit ihm zu kommen, und verschwieg, wohin er sie bringen wollte.
Erst als er vor Samuels Gemach angekommen war, verriet er seine Pläne.
»Ihr bringt mich zu... ihm?«, fragte Susanna begeistert.
»Den meisten anderen ist es verboten«, erklärte Grothusen und öffnete behutsam die Türe. »Aber wer hätte es mehr verdient, ihn zu sehen, als Ihr?«
Geschmeidig huschte Susanna in Samuels Reich, das so lautlos war wie sie. In der Dunkelheit des Abends und nur umwacht von Lenas Blick, hatte Samuel eben zu malen begonnen, als die grazile, blonde Frau vor seinen Füßen niedersank. Sie war so still, dass sie lange Zeit unbemerkt blieb. Erst als Lena sie misstrauisch gewahrte, hob auch Samuel den Kopf.
»Was soll das?«, rief Lena als Erste. »Kein Weib soll sich Samuel nähern!«
Susanna Bringsheim überhörte sie. Sie ließ sich nicht wegschieben, weil sie zu leicht dafür war. Hart zuzufassen hieße, sie zu zerdrücken.
»Ich bringe dir Susanna Bringsheim«, sprach Grothusen leise zu Samuel. »Sie ist fast verwelkt, aber in einem geschützten Winkel mag sie lieblich duften. Wer anders könnte dir beistehen beim Malen der vollendeten Engelbilder als deine heimliche Schwester – ein reizendes Geschöpf, das man überall, nur hier nicht, achtlos zertreten
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