Engelsblut
Bechtlhuber. Sich vortastend erklärte er, ein freier Publizist zu sein, leider ohne feste Anstellung und Einkommen. Menschen wie ihm würde das Leben schwer gemacht. Er sei politisch interessiert, neige zum Liberalismus und stoße deshalb auf verschlossene Tore. Die großen Journale mochten sich nicht gern mit Freigeistern wie ihm abgeben. Pressefreiheit sei hierzulande trotz aller Reform ein verpöntes Wort.
»Stellt Euch vor!«, rief er aus. »Stellt Euch vor, dass hierzulande ein Blatt mit dem Format der Halleschen Jahrbücher entstünde! Oder meinetwegen des Rheinischen Merkur oder der Historisch-Politischen Blätter, wie sie Joseph Görres verlegte. Undenkbar!«
Düster schüttelte Sebastian Bechtlhuber den Kopf.
Aber nein, fuhr er fort, hier erinnere alles an die Zeit, da Graf Sedlintzky noch an der Spitze der Polizei- und Zensurhofstelle stand und nicht nur Journalisten, sondern große Autoren wie Ludwig Börne, Heinrich Heine oder Theodor Mundt sich das Verbot zu publizieren gefallen lassen mussten, gleich so, als würde man noch immer unter Metternich leben.
Da Lena nichts sagte, mäßigte er sich.
Er wolle sie ganz gewiss nicht belästigen, fuhr er fort, aber die Recherchen für einen neuen Artikel hätten ihn nach Augsburg geführt, wo er von den skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fabrik des Wilhelm Bringsheim Kenntnis bekommen habe.
»Eine bittere Erfahrung!«, rief er mit gerötetem Gesicht. »Ihr könnt mir glauben: Ich will mich den Errungenschaften der Technik nicht verschließen. Als ich ein kleines Kind war, anno 1835, bin ich mit der ersten Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth gefahren. Aber man möge stets auch den Tribut des Fortschritts bedenken! Ist nicht längst festgelegt, dass Kinder nur zehn Stunden arbeiten sollen? Und doch ist es augenscheinlich, dass sich Bringsheim nicht daran hält. Knaben mit verrenkten Beinen, mit Buckeln und skrofulös zum Entsetzen. Kleine Mädchen, zur Arbeit abgerichtet wie Wiesel und Pudel, an die schnurrende Spindel, an die rasselnde Maschine geschmiedet, ehe noch die Knospe ihrer Jugend sich erschließt! Zerschunden schon von der Arbeit! Wie Gespenster, eben dem Grabe entstiegen, oder wie welke Blumen, die morgen sterben müssen!«
Bechtlhubers Gesicht glättete sich wieder. Das Rot, das in seine Wangen gestiegen war, verglomm.
Langsam, unendlich langsam kroch der Name Bringsheim in Lenas Kopf, während Bechtlhuber sie Beifall heischend ansah. Sie konnte diesen Namen nur mit der schlimmsten Rivalin in Zusammenhang bringen. So temporeich wie sie für gewöhnlich durch das Palais hastete, so gebremst nur vermochte sie Bechtlhuber zu begreifen.
»Ich dachte, Ihr wollt über Samuel Alt schreiben«, antwortete sie nachdenklich.
Bechtlhuber nickte, kramte ein kleines Heftchen aus seiner Tasche und überflog seine Notizen.
»Ich will Samuel Alt gewiss nichts Schlechtes«, bekundete er geschmeidig. »Man hört von ihm an vielen Orten sprechen; ein Bild von ihm zu besitzen gilt als mutig. Und manch einer, der Kunstkenner sein will, meint, er sei der größte Maler unserer Zeit. Doch Ihr müsst bedenken, dass es reichlich seltsam anmutet, wenn sich eine Frau vom Rang einer Susanna Bringsheim bei ihm verkriecht. Das tut sie doch, oder?«
Allmählich rückte er ihr näher. Lena rührte sich nicht.
»Werdet Ihr dafür sorgen, dass Susanna von hier fortgeht?«, fragte sie langsam.
Sebastian Bechtlhuber lachte laut und angestrengt.
»Die Welt ist aus den Fugen!«, kreischte er gutlaunig. »Die Welt ist aus den Fugen! Aber lasst mich der Reihe nach erklären: Gehe ich zu den großen Zeitungen und biete an, über die Ausbeutung bei Wilhelm Bringsheim zu schreiben, so schickt man mich fort. Kein Mensch will hören, wie es in seiner Fabrik zugeht! Sozialistische Blätter vielleicht – aber soll ich mich auf ewig rot färben lassen? Nein, ich will dort die Bürger erreichen, wo sie auch vertreten sind, und also aufdecken, was es über diesen Skandal zu sagen gibt. Doch glaubt mir, liebstes Fräulein, was ein Skandal ist und was nicht, das musste ich erst lernen.«
Er begann das Notizbüchlein zwischen den Händen zu zerfleddern.
»Werdet Ihr dafür sorgen, dass Susanna von hier fortgeht?«, fragte Lena erneut.
Bechtlhuber grinste freundlich. »Es sei ein Skandal – und obendrein ein großer –, dass dem reichen Herrn Fabrikbesitzer die Gattin davongelaufen ist. Das wollen die Leute hören! Darüber soll ich schreiben! Man tuschelt in Augsburg und lacht
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