Engelsblut
Perkal, Chaly. Verängstigt starrte er sie an, nicht fähig, die Menschen zu studieren. Es waren zu viele, die ihre Arme nach ihm streckten und denen er ausweichen musste, um den Berührungen zu entgehen. Er hasste die fremden Hände. Er wollte am liebsten in jene Finger beißen, die seine weiße Haut mit ihrem nachlässig-freundlichen Streicheln zu verbrennen trachteten.
Marie, neben der er ging, war verängstigt wie Samuel. Sie hoffte auf seine Führung und darauf, dass er die Leine zwischen ihnen straffte. Stattdessen ließ er sie los, entwich den Eltern, lief von ihnen fort in lange Gänge hinein. Er wusste nicht, in welche Richtung er sich begeben sollte, ließ sich drängen, mitreißen, mitführen, duckte sich noch tiefer unter beabsichtigten oder ungewollten Berührungen.
Nicht weit von ihm entfernt stand Andreas von Hagenstein, Gräfin Elsbeths dritter Sohn. Seine Gestalt war unauffällig, sein Gesicht farblos, aber er trug Locken wie ein Mädchen, und seine Bewegungen waren leicht und geschmeidig, gerade so, als würde er gehend tanzen. Sein Blick fiel auf Samuel, saugte sich an ihm fest und ließ ihn nicht wieder los. Lautlos beobachtete er Samuel und folgte ihm in einen Raum, wo jener Wundersames erblickte, innehielt und seine Furcht vergaß.
Ein Porträtmaler tat hier seine Arbeit, bildete – nicht ohne Talent, aber nachlässig – ein junges Fräulein ab, das vor ihm stand. Dabei erklärte er den Umstehenden mit größter Wichtigkeit, wie seine Arbeit ablaufe, was er dabei zu berücksichtigen habe, mit welchen Hilfsmitteln die Porträtmalerei vonstatten ging. Er deutete auf ein Gitter, durch welches hindurch er auf sein Modell blickte, um es hernach auf ein ebenso gerastertes Zeichenblatt zu übertragen – und nahm dann ein seltsames Gerät in die Hand, von dem er sagte, es sei eine Camera Lucida, ein Glasprisma, durch das ein Künstler wie er blicke, auf dass es ein schwaches, durchscheinendes Bild seines Modells auf das Blatt reflektiere.
Obwohl ihm auf diese Weise die Wahrheit des Fräuleins aufgezwungen wurde, folgte er den Gerätschaften nicht bis ins Letzte, ließ sich von den Umrissen leiten, aber füllte sie mit freiem Willen. Jener Wille war mild und gleichgültig und blickte über die Unebenheiten ihres Gesichts hinweg, malte sie ohne gelbe Zähne, färbte ihr dumpfes Haar golden, rückte ihre schielenden Augen gerade.
Samuel stand und starrte und drängte sich schließlich dem Maler und dem jungen Fräulein auf. Andreas von Hagenstein, der kleine, mädchenhafte Vetter, glotzte verzückt.
»Gelt«, murmelte der Porträtist Samuel zu. »Gelt, schön ist es, was du da siehst!«
Das Fräulein lächelte.
Samuel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein – Ihr lügt, wenn Ihr malt.«
Es schien, als wollten alle in dem Zimmer gleichzeitig auf ihn einreden, ihn fragen, was ihm einfiele, es wäre nicht höflich, dergleichen auszusprechen, gehöre sich nicht, zeige ihn als unverschämten Lümmel.
»Willst es wohl besser machen?«, herrschte der Porträtist ihn verlegen an.
»Ja«, sagte Samuel. Dann trat er vor, schob das Zeichengitter fort, auch die Camera Lucida, griff zum Skizzenblock des Porträtisten und zu einem schwarzen Kohlestift und skizzierte das junge Fräulein, ohne es noch einmal anzusehen. Er verzichtete auf Farben und zeichnete mit schwarzen Strichen.
Er zeichnete, wie das Fräulein ihre dicken, speckigen Finger affektiert spreizte; er zeichnete, wie ihre Augen den Blicken anderer auswichen, nie geradeaus sahen und deswegen schielten; er zeichnete die Haarsträhnen, die sich aus den Locken lösten, weil das Haar ungebärdig war und ihm mit dem Brenneisen nicht beizukommen war; er zeichnete, wie sie ihren Rücken nach innen krümmte, devot und demutsvoll und immer fürchtend, einem anderen könne ihr Benehmen missfallen; er zeichnete die schief gewachsenen Schneidezähne, von deren linkem ein Eckchen fehlte. Der Zahn war gebrochen, als das Fräulein vor Jahren gestürzt war. Damals floh sie vor dem Onkel, der oft ins Kinderzimmer geschlichen kam und mit ihr ein Spiel spielen wollte, bei dem sie gleich einem Reiter auf seinem Schoß sitzen und darauf ruckelnd galoppieren sollte. Als seine Hände sich unter ihre Bluse schoben, schämte sie sich, sprang von seinen Beinen und fiel mit dem Gesicht auf den Boden.
Niemand wusste davon. Sie selbst hatte es vergessen wollen. Jetzt sahen die Menschen den abgebrochenen Schneidezahn auf Samuels Bild, schlugen die Hände über
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