Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
der Mieterliste zu suchen. Der Concierge konnte jeden Moment zurückkehren, und er wollte keine Auseinandersetzung riskieren. Der Raum war voller Überwachungskameras und verfügte garantiert über ein Alarmsystem.
Kain entdeckte einen uniformierten, jungen Latino hinter einer Glastür im Durchgang zur Garage. Wahrscheinlich ein Angestellter, der die Wagen der Hausbewohner parkte. Als Kain ihm zuwinkte, öffnete der Mann die Tür und lächelte ihn an.
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
Kain lächelte zurück. Er las die aufkeimende Sympathie in den Augen des anderen.
„Ich bin mit Eve Hess verabredet“, sagte er, „aber nicht sicher, welche Apartment-Nummer ...“
„Eve“, das Gesicht des Latinos hellte sich auf, „die Reporterin? Sie ist eben erst eingezogen, nicht wahr?“
„Genau. Ich wollte sie anrufen, aber mein Handy ist leer.“ Kain hob die Hände in einer verlegenen Geste. „Ich bin leider zu spät, sie wundert sich wahrscheinlich schon, wo ich bleibe.“
Der Latino nestelte einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Kein Problem“, sagte er, „ich bringe Sie hoch.“
Er ging zu den Aufzügen und aktivierte das Zahlenfeld mit einem Plastikclip. Kain hatte es erwartet. In einem solchen Gebäude waren alle Zugänge mit Chipschlössern gesichert. Der junge Mann drückte eine Taste und trat zurück in den Flur.
„Siebzehn-Null-Eins“, sagte er.
Kain rief ihm einen Dank zu. Sein Lächeln erlosch, als die Türen sich schlossen.
Im siebzehnten Stock trat er in einen hohen Korridor mit cremefarbenen Wänden. Dicker Teppichboden dämpfte seine Schritte. Er betrachtete die Teakholztüren und die Nummernschilder, die dezent neben den Klingelknöpfen angebracht waren. Kein Laut drang aus den Wohnungen. Kein Geschrei, kein Kinderlachen. Nicht einmal das Geräusch eines laufenden Fernsehers, nur luxuriöse Stille.
Das Apartment von Eve Hess lag an der Stirnseite des Flurs. Kain tastete nach der Desert Eagle unter seiner Jacke. Vitali hatte geschrieben, dass die Frau vom Blut war, eine Anomalie, deren Kräfte nicht abschätzbar waren. Er fragte sich nur, warum er ihre Aura nicht fand. Er tastete nach ihr, streckte seinen Geist nach ihr aus, ohne das geringste Echo. Dabei musste sie sorglos sein. Sie rechnete nicht mit jemandem wie ihm. Sie hatte keinen Grund, ihre Aura zu verbergen. Warum also spürte er sie nicht? Vielleicht eine Wirkung der Anomalie?
Er streckte eine Hand nach dem Klingelknopf aus. Im letzten Moment zog er sie zurück, als er ein Lachen auf der anderen Seite der Tür hörte, eine männliche Stimme. Die Frau fragte etwas, der Mann antwortete. Sie war nicht allein.
Kain zögerte. Wenn er sie in ihrem Apartment überraschte, ging er ein Risiko ein. Er wusste nicht, wer der Mann war. Und es irritierte ihn immer stärker, dass er die Frau überhaupt nicht fühlen konnte. Selbst seinem Vater war es nie gelungen, sich vollständig gegen ihn abzuschirmen. Das musste nicht bedeuten, dass ihre Kräfte die seines Vaters überschritten. Aber er wusste dennoch zu wenig über sie, um das Risiko eines zusätzlichen Gegners einzugehen, selbst wenn es nur ein Mensch war.
Kain löste die Finger vom Griff der Pistole. Er drehte sich zurück in den Korridor und musterte die Decke. Schließlich fand er die Kamera, versteckt in einer Nische. Und eine zweite an der Ecke. Zweifellos gab es noch weitere, die den Bereich vor den Aufzügen überwachten.
So gesehen war es ohnehin nicht die beste Idee, die Frau in ihrem Apartment zu töten. Man würde ihn auf den Bändern entdecken und sein Gesicht mit dem Mord in Verbindung bringen. Er konnte ihre Leiche nicht unbemerkt verschwinden lassen, zumindest nicht ohne größeren logistischen Aufwand. Dafür wiederum hatte er keine Zeit. Sein Auftraggeber stand unter Druck.
Kain hatte keine Wochen oder gar Monate, um das Opfer zu beobachten, seine Gewohnheiten zu studieren und auf den perfekten Moment zu warten, auf eine Schwäche, eine Verwundbarkeit. Leises Bedauern spülte über ihn hinweg. Er tastete mit der Zunge über seine Zähne. Der Hunger regte sich in ihm. Was für ein Genuss es wäre, von einem anderen Schattenläufer zu trinken. Von einer Frau mit dem Blut.
Die Gier wurde so stark, dass er eine weitere Minute mit sich kämpfte. In Momenten wie diesen, wenn die Sucht ihn zu überwältigen drohte, unterschied er nicht mehr zwischen Emotionen. Er kämpfte nur, er zitterte, er ballte seine Hände zu Fäusten, so dass seine Nägel sich tief in die
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