Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
erfüllten. In der Ecke stand ein riesiger geschnitzter Jadeschrank. Dünne grüne Drachen , die in die Jade geschnitten waren, grinsten Luce an, als wüssten sie alles, was sie nicht wusste.
Und in der Mitte des Raums lag ein toter Mann ausgestreckt auf dem Boden.
Doch bevor Luce noch mehr erkennen konnte, wurde sie von einem hellen Licht geblendet, das sich auf sie zubewegte. Es war das gleiche Leuchten, das sie von der anderen Seite des Verkünders aus gespürt hatte.
»Was ist das für ein Licht?«, fragte sie Bill.
»Das … ähm, siehst du das etwa?« Bill klang überrascht. »Das ist deine Seele. Eine weitere Möglichkeit für dich, deine früheren Leben zu erkennen, wenn sie sich körperlich von dir zu unterscheiden scheinen.« Er hielt inne. »Ist dir das vorher noch nie aufgefallen?«
»Das ist das erste Mal, denke ich.«
»Hm«, sagte Bill. »Das ist ein gutes Zeichen. Du machst Fortschritte.«
Luce fühlte sich plötzlich erschöpft. »Ich dachte, es wäre Daniel.«
Bill räusperte sich, als wolle er noch etwas sagen, aber er schwieg. Das Licht brannte noch für einen Herzschlag hell, dann erlosch es so plötzlich, dass sie einen Moment lang nichts sehen konnte, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
»Was tust du hier?«, fragte jemand grob.
In der Mitte des Raumes, dort, wo das Licht gewesen war, sah Luce eine zarte, hübsche Chinesin von etwa siebzehn Jahren – zu jung und zu elegant, um über dem Leichnam eines Mannes zu stehen.
Dunkles Haar fiel ihr bis zur Taille und hob sich von ihrem bodenlangen weißen Seidengewand ab. So zierlich sie auch war, schien sie die Art Mädchen zu sein, die nicht vor einem Kampf zurückschreckt.
»Also, das bist du«, erklang Bills Stimme in Luce’ Ohr. »Dein Name ist Lu Xin und du hast außerhalb der Hauptstadt von Yin gelebt. Wir befinden uns am Ende der Shang-Dynastie, etwa 1000 vor Christus, für den Fall, dass du dir eine Notiz in dein Scrapbook machen willst.«
Lu Xin musste Luce für eine Verrückte halten, so wie sie hier hereinplatzte, bekleidet mit einer versengten Tierhaut und einer Kette aus Knochen, das Haar zerzaust. Wann hatte sie das letzte Mal in einen Spiegel geschaut? Ein Bad genommen? Außerdem redete sie mit einem unsichtbaren Gargoyle.
Aber andererseits stand Lu Xin Wache über einem Toten und warf Luce einen Lass-mich-bloß-in-Ruhe-Blick zu, daher wirkte sie selbst ein bisschen verrückt.
Oh Mann. Luce hatte das Jademesser mit den Türkisen im Griff nicht bemerkt, ebenso wenig die kleine Blutlache in der Mitte des Marmorbodens.
»Was soll ich …«, begann sie Bill zu fragen.
»Du da.« Lu Xins Stimme war erstaunlich laut. »Hilf mir, seinen Leichnam zu verstecken.«
Der Tote hatte weiße Schläfen. Unter seinen kostbaren Roben und bestickten Mänteln war er schlank und muskulös. Luce schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre.
»Ich – ähm, ich glaube wirklich nicht …«
»Sobald sie erfahren, dass der König tot ist, werden wir beide ebenfalls tot sein.«
»Was?«, fragte Luce. »Ich?«
» Du, ich, die meisten Menschen innerhalb dieser Maue rn. Wo sollen sie sonst tausend Opferleiber finden, die mit dem Despoten begraben werden müssen?« Das Mädchen wischte sich mit schlanken, jadeberingten Fingern die Wangen trocken. »Hilfst du mir nun oder nicht?«
Auf die Bitte des Mädchens hin nahm Luce die Beine des Königs. Lu Xin machte sich bereit, ihn unter den Armen anzuheben. »Der König«, sagte Luce, und die alte Shang-Sprache kam ihr so flüssig über die Lippen, als habe sie sie schon immer gesprochen. »War er …«
»Es ist nicht so, wie es scheint.« Lu Xin ächzte unter dem Gewicht des Leichnams. Der König war schwerer, als er aussah. »Ich habe ihn nicht getötet. Zumindest nicht« – sie hielt inne – »körperlich. Er war schon tot, als ich in den Raum kam.« Sie schniefte. »Er hat sich selbst einen Dolch ins Herz gestoßen. Ich habe immer gesagt, er habe gar kein Herz, aber er hat mir das Gegenteil bewiesen.«
Luce betrachtete das Gesicht des Mannes. Eins seiner Augen stand offen. Sein Mund war verzerrt. Er sah so aus, als habe er diese Welt unter Qualen verlassen. »War er dein Vater?«
Inzwischen hatten sie den riesigen Jadeschrank erreicht. Lu Xin drückte die Tür mit der Hüfte auf, machte einen Schritt rückwärts und warf den Oberkörper des Königs hinein.
»Er sollte mein Gemahl werden«, antwortete sie kalt. »Und ein schrecklicher noch dazu. Die Vorfahren haben unserer Heirat
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