Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
löchrige Lehmstraße holperte, hielt sie sich an der straffen Leinwand der oberen Trage fest und drückte eine Faust voll Gaze von unten dagegen. Binnen Sekunden waren ihre Finger nass von Blut.
»Hilfe!«, rief sie dem Krankenwagenfahrer zu, in der Hoffnung, er würde sie hören.
»Was gibt es?« Der Fahrer sprach irgendeinen italienischen Dialekt.
»Dieser Mann hier – er verblutet. Ich denke, er stirbt.«
»Wir sterben alle, meine Schöne«, antwortete der Fahrer. Wirklich, flirtete er mit ihr? Hier und jetzt? Eine Sekunde später drehte er sich um und sah sie durch die Öffnung hinter dem Fahrersitz an. »Hör mal, es tut mir leid. Aber wir können nichts machen. Ich muss die anderen Burschen ins Krankenhaus schaffen.«
Er hatte recht. Es war bereits zu spät. Als Luce die Hand unter der Trage wegnahm, begann das Blut wieder herauszuschießen.
Luce fand keine Worte des Trostes für den Jungen auf der Trage darunter, dessen Augen weit aufgerissen und wie versteinert waren, während er ein hektisches Ave Maria flüsterte. Das Blut des Jungen über ihm tropfte an seinen Seiten herunter und bildete Lachen, wo seine Hüften auf der Trage lagen.
Luce wollte die Augen schließen und verschwinden. Sie wollte die Schatten durchsuchen, die die Laterne warf, und einen Verkünder finden, der sie an einen anderen Ort brachte. An irgendeinen anderen Ort.
Wie zum Beispiel an den Strand unter dem Campus der Shoreline. Wo Daniel mit ihr auf dem Ozean getanzt hatte, unter den Sternen. Oder in den makellosen Teich mitten im Regenwald, in dem sie in einem gelben Bikini geschwommen war. Sie hätte die Sword & Cross diesem Krankenwagen vorgezogen, selbst die schlimmsten Augenblicke, wie den Abend, an dem sie sich mit Cam in dieser Bar getroffen hatte. Wie der Augenblick, als sie ihn geküsst hatte. Sie würde sogar Moskau vorziehen. Dies war noch schlimmer. Etwas wie das hier hatte sie noch nie erlebt.
Nur …
Natürlich hatte sie es erlebt. Sie musste bereits etwas erlebt haben, das beinahe genauso war wie dies hier. Das war der Grund, warum sie an diesem Ort gelandet war. Irgendwo in dieser kriegsgeplagten Welt war das Mädchen, das gestorben und ins Leben zurückgekehrt und sie selbst geworden war. Dessen war sie sich sicher. Sie musste Wunden verbunden, Wasser getragen und den Drang unterdrückt haben, sich zu übergeben. Es gab Luce Kraft, an das Mädchen zu denken, das dies schon einmal durchlebt hatte.
Der Blutstrom wurde zu einem Rinnsal und dann zu einem ganz langsamen Tropfen. Der Junge darunter war ohnmächtig geworden, also hielt Luce stumm für lange Zeit allein Wache. Bis das Tropfen gänzlich aufhörte.
Dann griff sie nach einem Handtuch und dem Wasser und begann, den Soldaten in der mittleren Koje zu waschen. Es war eine Weile her, seit er ein Bad genommen hatte. Luce wusch ihn sanft und wechselte den Verband um seinen Kopf. Als er zu sich kam, ließ sie ihn an dem Wasser nippen. Seine Atmung wurde gleichmäßiger, und er hörte auf, voller Entsetzen die Trage über sich anzustarren. Es schien ihm besser zu gehen.
Alle Soldaten schienen einen gewissen Trost darin zu finden, von ihr versorgt zu werden, selbst der auf dem Boden, der kein einziges Mal die Augen öffnete. Und sie säuberte auch das Gesicht des Jungen in der oberen Koje, der gestorben war. Sie konnte nicht erklären, warum. Sie wollte, dass er ein wenig Frieden hatte.
Es war unmöglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Luce wusste nur, dass es dunkel und stickig war und dass ihr Rücken schmerzte und ihre Kehle ausgedörrt und sie selbst erschöpft war – und dass sie besser dran war als die Männer um sie herum.
Sie hatte mit dem Soldaten auf der Trage unten links bis zum Schluss gewartet. Er hatte eine schwere Verletzung am Hals, und Luce befürchtete, dass er noch mehr Blut verlieren würde, wenn sie versuchte, die Wunde neu zu verbinden. Sie tat ihr Bestes, setzte sich auf die Kante seiner Trage, tupfte mit einem Schwamm sein schmutziges Gesicht ab und wusch ein wenig von dem Blut aus seinem blonden Haar. Unter all dem Dreck sah er recht gut aus. Sehr gut sogar. Aber sein Hals lenkte sie ab, der noch immer durch den Verband blutete. Wann immer sie der Verletzung auch nur nahe kam, schrie er vor Schmerz auf.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, flüsterte sie. »Sie werden durchkommen.«
»Ich weiß.« Sein Flüstern war so leise und klang so unglaublich traurig, dass Luce sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
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