Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
hatte.
»Wasser.« Ein Krug landete in Luce’ Armen. »Verbände. Gaze.« Die Oberschwester verteilte die Vorratsrationen mechanisch, bereit, zum nächsten Mädchen weiterzugehen, aber dann tat sie es doch nicht. Sie fixierte Luce, schaute sie von oben bis unten an, und Luce realisierte, dass sie noch immer den schweren Wollmantel von Luschkas Großmutter in Moskau trug. Und das war auch gut so, denn unter dem Mantel hatte sie die Jeans und die Bluse aus ihrem richtigen Leben an.
»Uniform«, sagte die Frau schließlich in dem gleichen monotonen Tonfall und warf ihr ein weißes Kleid und eine Schwesternhaube zu, wie die anderen Mädchen sie trugen.
Luce nickte dankbar, dann verschwand sie hinter dem anderen Lastwagen, um sich umzuziehen. Es war ein bauschiges weißes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte und das stark nach Bleichmittel roch. Sie versuchte, sich das Blut des Soldaten von den Händen zu wischen, wofür sie den Wollmantel benutzte, dann warf sie ihn hinter einen Baum. Aber als sie die Schwesternuniform zugeknöpft, sich die Ärmel aufgekrempelt und den Gürtel um ihre Taille gebunden hatte, war die Uniform vollkommen mit rostroten Streifen bedeckt.
Sie ergriff die Vorräte und rannte wieder über die Straße. Die Szene vor ihr war grauenvoll. Der Offizier hatte nicht gelogen. Es gab mindestens hundert Männer, die Hilfe brauchten. Sie betrachtete die Verbände in ihren Armen und fragte sich, was sie tun sollte.
»Schwester!«, rief ein Mann. Er schob eine Bahre in einen Krankenwagen. »Schwester! Dieser hier braucht eine Schwester.«
Luce begriff, dass er mit ihr sprach. »Oh«, antwortete sie schwach. »Ich?« Sie spähte in den Krankenwagen. Im Innern war es eng und dunkel. Auf einer Fläche, die aussah, als sei sie für zwei Personen gemacht worden, befanden sich jetzt sechs. Die verwundeten Soldaten lagen auf Tragen, die – jeweils drei übereinander – in Schlingen zu beiden Seiten geschoben wurden. Für Luce gab es keinen Platz außer auf dem Boden.
Jemand stieß sie zur Seite: Ein Mann, der eine weitere Trage auf den freien Platz auf dem Boden schob. Der Soldat darauf war bewusstlos und das schwarze Haar klebte ihm am Gesicht.
»Rein mit dir«, befahl der Soldat Luce. »Der Wagen fährt jetzt ab.«
Als sie sich nicht bewegte, zeigte er auf einen hölzernen Hocker, der mit einem Seil an der Innenseite der Hintertür des Krankenwagens befestigt war. Er beugte sich vor und machte mit den Händen einen Steigbügel, um Luce auf den Hocker zu helfen. Eine weitere Bombe ließ den Boden erzittern, und Luce konnte den Schrei nicht unterdrücken, der sich auf ihren Lippen formte.
Sie sah den Soldaten entschuldigend an, holte tief Luft und hüpfte hinauf.
Als sie auf dem winzigen Hocker saß, reichte er ihr den Wasserkrug und die Schachtel mit Mull und Verbandszeug. Dann machte er Anstalten, die Tür zu schließen.
»Warten Sie«, flüsterte Luce. »Was soll ich tun?«
Der Mann hielt inne. »Du weißt, wie lang die Fahrt nach Mailand dauert. Verbinde ihnen die Wunden und sorg dafür, dass sie es bequem haben. Tu, was du kannst.«
Dann schlug er die Tür zu, und Luce musste sich am Hocker festhalten, um nicht herunterzufallen und auf dem Soldaten zu ihren Füßen zu landen. Im Krankenwagen war es drückend heiß. Es roch schrecklich. Das einzige Licht kam von einer kleinen Laterne, die an einem Nagel in der Ecke hing. Das einzige Fenster war direkt hinter ihrem Kopf in der Tür. Sie wusste nicht, was mit Giovanni geschehen war, dem Jungen mit der Kugel im Bauch. Ob sie ihn je wiedersehen würde. Ob er die Nacht überleben würde.
Der Motor wurde angelassen. Der Krankenwagen bewegte sich schlingernd vorwärts. Ein Soldat auf einer der oberen Tragen begann zu stöhnen.
Nachdem sie ein stetiges Tempo erreicht hatten, hörte Luce irgendetwas tropfen. Sie brauchte eine Weile, bis sie in dem fahlen Licht der Lampe die Ursache ausfindig gemacht hatte.
Es war das Blut des Soldaten auf der oberen Trage, das auf den Soldaten unter ihm tropfte. Die Augen dieses Soldaten waren offen. Er beobachtete, wie das Blut auf seine Brust fiel, aber er war so schwer verletzt, dass er nicht zur Seite rutschen konnte. Er gab keinen Laut von sich. Nicht bis das Rinnsal Blut zu einem Strom wurde.
Luce wimmerte genauso wie der Soldat. Sie stand von ihrem Hocker auf, aber auf dem Boden lag ja schon ein verwundeter Soldat. Vorsichtig schob sie die Füße an seiner Brust entlang. Als der Krankenwagen über die
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