Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
Luce leise.
»Aber du solltest zuerst zu Signorina Fiero in die Schwesternstation gehen. Sie kümmert sich um die Anmeldung und die Arbeitspläne« – Lucia kicherte, senkte die Stimme und beugte sich zu Luce vor – »und dienstagnachmittags um den Arzt!«
Luce konnte Lucia nur anstarren. Aus der Nähe betrachtet, war ihr früheres Ich so real, so lebendig, ganz und gar die Art von Mädchen, mit der Luce sich sofort angefreundet hätte, wären die Umstände auch nur ansatzweise normal gewesen. Sie wollte Lucia umarmen, aber sie wurde von einer unbeschreiblichen Furcht überwältigt. Sie hatte die Wunden von sieben halb toten Soldaten gereinigt – einer davon die Liebe ihres Lebens –, aber wenn es um Lucia ging, war sie sich nicht sicher, was sie tun sollte. Das Mädchen schien zu jung zu sein, um irgendeins der Geheimnisse zu kennen, nach denen Luce suchte, etwas über den Fluch zu wissen, über die Outcasts. Luce befürchtete, dass sie Lucia nur erschrecken würde, wenn sie anfing von Reinkarnation und vom Himmel zu sprechen. Da war etwas in Lucias Augen, etwas an ihrer Unschuld – Luce begriff, dass Lucia noch weniger wusste als sie selbst.
Sie stieg aus dem Krankenwagen und wich zurück.
»Es war schön, dich kennenzulernen, Doria«, rief Lucia.
Aber da war Luce bereits verschwunden.
Nachdem sie in sechs falsche Räume gestolpert war, drei Soldaten erschreckt und einen Medizinschrank umgekippt hatte, fand sie ihn.
Daniel teilte sich im Ostflügel ein Zimmer mit zwei anderen Soldaten. Einer war ein schweigsamer Mann, dessen ganzes Gesicht bandagiert war. Der andere schnarchte laut und unter seinem Kissen war eine Flasche Whisky nicht allzu gut versteckt. Er hatte zwei gebrochene Beine, die in Schlingen hingen.
Der Raum selbst war kahl und steril, aber er hatte ein Fenster, das auf eine breite, von Orangenbäumen gesäumte Stadtallee hinausging.
Während Luce an seinem Bett stand und ihn im Schlaf beobachtete, konnte sie es sehen. Die Art, wie ihre Liebe hier aufgeblüht war. Sie konnte Lucia hereinkommen sehen, um Daniel seine Mahlzeiten zu bringen, während er sich ihr langsam öffnete. Das Paar würde unzertrennlich sein, wenn Daniel sich erholt hatte. Und Eifersucht, Schuldgefühle und Verwirrung stiegen in ihr auf, weil sie im Augenblick nicht sagen konnte, ob ihre Liebe etwas Wunderschönes war oder ob dies ein weiterer Fall war, der davon kündete, wie überaus falsch diese Liebe war.
Wenn sie so jung gewesen war, als sie sich kennenlernten, mussten sie in diesem Leben eine lange Beziehung gehabt haben. Sie hatte Jahre mit ihm verbracht, bevor es geschah. Bevor sie starb und in einem gänzlich anderen Leben wiedergeboren wurde. Sie musste gedacht haben, dass sie für immer zusammenbleiben würden – und sie hatte nicht gewusst, wie lange für immer sein würde.
Aber Daniel wusste es. Er wusste es immer.
Luce ließ sich neben seinem Bett niedersinken, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu wecken. Vielleicht war er nicht immer so verschlossen und schwer erreichbar gewesen. Sie hatte gerade gesehen, wie er ihr in ihrem Moskauer Leben in dem kritischen Augenblick vor ihrem Tod etwas zugeflüstert hatte. Wenn sie in diesem Leben einfach mit ihm reden konnte, würde er sie vielleicht anders behandeln als der Daniel, den sie kannte. Er würde vielleicht nicht so viel vor ihr verbergen. Vielleicht würde er ihr helfen zu verstehen. Vielleicht ihr zur Abwechslung die Wahrheit sagen.
Dann konnte sie in die Gegenwart zurückkehren und es würde keine Geheimnisse mehr geben. Das war alles, was sie wirklich wollte: Dass sie beide einander offen liebten. Und dass sie nicht sterben würde.
Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Sie liebte seine Wange. Er war zerschunden und verletzt und wahrscheinlich hatte er eine Gehirnerschütterung, aber seine Wange war warm und glatt, und vor allem war es einfach Daniels Wange. Er war so zauberhaft wie eh und je. Sein Gesicht war im Schlaf so friedlich, dass Luce ihn stundenlang aus jedem Winkel hätte betrachten können, ohne sich zu langweilen. Für sie war er vollkommen. Seine perfekten Lippen waren die gleichen. Als sie sie mit dem Finger berührte, waren sie so weich, dass sie sich zu einem Kuss vorbeugen musste. Er rührte sich nicht.
Sie zeichnete mit den Lippen sein Kinn nach, küsste die Seite seines Halses, die nicht verletzt war, und sein Schlüsselbein. Oben an seiner rechten Schulter verweilten ihre Lippen über einer kleinen weißen
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