Engelsflammen: Band 3 (German Edition)

Schatten war ein Teil von ihr? Plötzlich ergab es auf eine unerwartete Weise einen Sinn. Es erklärte, warum Luce selbst zu Beginn, als es ihr Angst gemacht hatte, sich nicht hatte daran hindern können, durch die Verkünder zu treten. Selbst als Roland sie gewarnt hatte, dass sie gefährlich seien. Selbst als Daniel sie angestarrt hatte, als habe sie ein schreckliches Verbrechen begangen. Die Verkünder fühlten sich immer wie eine Tür an, die sich öffnete. War es möglich, dass sie es wirklich waren?
    Ihre Vergangenheit, einst so unergründlich, war da draußen, und sie brauchte nur durch die richtigen Türen zu treten? Sie konnte sehen, wer sie gewesen war, was Daniel zu ihr hingezogen hatte, warum ihre Liebe verdammt worden war, wie sie im Laufe der Zeit gewachsen war und sich verändert hatte. Und, am wichtigsten, was sie in der Zukunft sein konnten.
    »Wir sind schon ein gutes Stück vorangekommen«, erklärte Bill. »Aber nachdem du nun weißt, wozu du und deine Verkünder fähig sind, musst du beim nächsten Mal, wenn du hindurchschreitest, daran denken, was du willst. Und denk nicht an einen Ort oder eine Zeit, denk vor allem an deine Suche.«
    »In Ordnung.« Luce bemühte sich, das Wirrwarr ihrer Gefühle in Worte zu fassen, die vielleicht auch laut ausgesprochen noch einen Sinn ergaben.
    »Warum versuchst du es nicht jetzt gleich?«, schlug Bill vor. »Nur zur Übung. Das könnte uns eine Vorstellung davon verschaffen, wohin wir gelangen werden. Denk an das, worauf du aus bist.«
    »Verstehen«, sagte sie leise.
    »Gut«, erwiderte Bill. »Was noch?«
    Eine nervöse Energie durchströmte sie, als stehe sie am Rande von etwas Wichtigem. »Ich will herausfinden, warum Daniel und ich verflucht wurden. Und ich will diesen Fluch brechen. Ich will dafür sorgen, dass die Liebe mich nicht wieder tötet, damit wir endlich zusammen sein können – richtig zusammen sein können.«
    »Halt, halt, halt.« Bill begann mit den Händen zu wedeln wie jemand, der mit seinem Auto am Rand einer dunklen Straße liegen geblieben war. »Lass uns nicht größenwahnsinnig werden. Dies ist ein sehr alter Fluch, mit dem du es hier zu tun hast. Du und Daniel, das ist wie … ich weiß nicht, du kannst nicht einfach mit deinen hübschen kleinen Fingern schnippen und den Fluch brechen. Du musst klein anfangen.«
    »Richtig«, sagte Luce. »In Ordnung. Dann sollte ich anfangen, indem ich eines meiner früheren Ichs kennenlerne. Indem ich in seine Nähe komme und zusehe, wie die Beziehung zu Daniel sich entwickelt. Ich muss feststellen, ob sie das Gleiche empfindet, was ich empfinde.«
    Bill nickte und ein verschrobenes Lächeln breitete sich auf seinen vollen Lippen aus. Er führte sie an den Rand des Vorsprungs. »Ich denke, du bist so weit. Gehen wir.«
    Gehen wir? Der Gargoyle kam mit ihr? Aus dem Verkünder und in eine andere Vergangenheit? Ja, Luce konnte Gesellschaft gebrauchen, aber sie kannte diesen Burschen kaum.
    »Du fragst dich, warum du mir vertrauen solltest, nicht wahr?«, bemerkte Bill.
    »Nein, ich …«
    »Ich kapier schon«, unterbrach er sie. Er schwebte vor ihr in der Luft. »Man muss sich an mich erst gewöhnen. Vor allem verglichen mit der Gesellschaft, die du früher hattest. Ich bin gewiss kein Engel.« Er schnaubte. »Aber ich kann dafür sorgen, dass diese Reise sich für dich lohnt. Wenn du willst, können wir ein Abkommen schließen. Wenn du mich leid wirst – sag es einfach. Ich verschwinde dann.« Er streckte seine lange, klauenbewehrte Hand aus.
    Luce schauderte. Bills Hand war verkrustet mit steinigen Zysten und Ausschlag von Farnen wie eine zerstörte Statue. Auf keinen Fall wollte sie seine Hand in ihre nehmen. Aber wenn sie es nicht tat, wenn sie ihn jetzt gleich wegschickte …
    Mit ihm war sie vielleicht besser dran als ohne ihn.
    Sie schaute auf ihre Füße hinab. Der kurze, nasse Felsvorsprung zwischen ihnen endete dort, wo sie stand, und fiel dann in gähnende Leere ab. Zwischen ihren Schuhen erregte etwas ihre Aufmerksamkeit, ein Schimmern im Ges tein, das sie blinzeln ließ. Der Boden bewegte sich … wur de weicher … schwankte unter ihren Füßen.
    Luce schaute hinter sich. Der ganze Felsvorsprung zerbröselte, bis zur Wand der Höhle. Sie stand schwankend am Rand. Der Fels um sie herum verschwand, schneller und immer schneller, bis frische Luft über ihre Fersen strich und sie sprang …
    und ihre rechte Hand in Bills ausgestreckte Krallen legte. Sie schwankten in der Luft.
    »Wie