Engelsflammen: Band 3 (German Edition)

kommen wir von hier weg?«, rief sie und klammerte sich jetzt fest an ihn, aus Angst, in den Abgrund zu fallen, den sie nicht sehen konnte.
    »Folge deinem Herzen.« Bill strahlte sie gelassen an. »Es wird dich nicht in die Irre führen.«
    Luce schloss die Augen und dachte an Daniel. Ein Gefühl der Schwerelosigkeit überkam sie und sie schnappte nach Luft. Als sie die Augen öffnete, schwebte sie irgendwie durch Dunkelheit, die von einem Rauschen erfüllt war. Die steinerne Höhle bewegte sich und formte sich selbst zu einer kleinen goldenen Kugel aus Licht, die schrumpfte und verschwand.
    Luce schaute zur Seite. Bill war direkt neben ihr.
    »Was war das Erste, was ich dir gesagt habe?«, fragte er.
    Luce erinnerte sich daran, dass es den Anschein gehabt hatte, als dringe seine Stimme tief in sie hinein.
    »Du hast gesagt, ich solle langsam machen. Dass ich niemals etwas lernen würde, wenn ich so schnell durch meine Vergangenheit flitze.«
    »Und?«
    »Es war genau das, was ich tun wollte, ich habe nur nicht gewusst, dass ich es wollte.«
    »Vielleicht ist das der Grund, warum du mich gerade zu d iesem Zeitpunkt gefunden hast«, überschrie Bill den Win d. Seine grauen Flügel bäumten sich auf, während sie weiterrasten. »Und vielleicht ist das der Grund, warum wir genau … hier … landen.«
    Der Wind legte sich. Das Rauschen verebbte.
    Luce’ Füße krachten auf den Boden; es war ein Gefühl, als flöge sie von einer Schaukel und lande auf einem Rasen. Sie hatte den Verkünder verlassen und war an einem anderen Ort. Die Luft war warm und ein wenig feucht. Das Licht um ihre Füße herum sagte ihr, dass der Abend dämmerte.
    Sie standen auf einer Wiese aus dichtem, weichem, leuchtend grünem Gras, das ihr bis zu den Waden reichte. Hie und da war das Gras gesprenkelt mit winzigen hellroten Früchten – wilden Erdbeeren. Vor ihnen markierte eine Reihe silberner Birken den Rand des gepflegten Rasens eines Landgutes. In einiger Entfernung dahinter stand ein riesiges Haus.
    Von hier aus konnte sie eine weiße steinerne Treppe sehen, die zum Hintereingang einer großen Villa im Tudorstil führte. Ein Meer gestutzter gelber Rosenbüsche begrenzte den Rasen nach Norden hin, und ein kleines Labyrinth aus Hecken erstreckte sich fast bis zu dem schmiedeeisernen Tor im Osten. In der Mitte lag ein üppiger Gemüsegarten, in dem Bohnen an ihren Stangen in die Höhe kletterten. Ein Kiespfad teilte den Garten in zwei Hälften und führte zu einem großen weiß getünchten Pavillon.
    Luce’ Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie schon einmal an diesem Ort gewesen war. Dies war kein gewöhnliches Déjà-vu. Sie betrachtete einen Ort, der ihr und Daniel etwas bedeutet hatte. Sie erwartete beinahe, sie beide in genau diesem Moment eng umschlungen dort zu sehen.
    Aber das Gartenhaus war leer und nur gefüllt mit dem orangefarbenen Licht der untergehenden Sonne.
    Irgendjemand stieß einen Pfiff aus und sie zuckte zusammen.
    Bill.
    Sie hatte vergessen, dass er bei ihr war. Er schwebte in der Luft, sodass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. Außerhalb des Verkünders war er ein wenig abstoßender, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Im Licht war sein Fleisch trocken und schuppig und er roch ziemlich stark nach Moder. Fliegen schwirrten um seinen Kopf herum. Luce rückte ein wenig von ihm ab und wünschte beinahe, er würde wieder unsichtbar werden.
    »Das ist auf jeden Fall besser als ein Schlachtfeld«, bemerkte er und betrachtete das Grundstück.
    »Woher weißt du, wo ich vorher war?«
    »Ich bin … Bill.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß so mancherlei.«
    »Na schön, wo sind wir jetzt?«
    »In Helston, in England« – er deutete mit einer Klauenspitze auf seinen Kopf und schloss die Augen –, »in dem Jahr, das du 1854 nennen würdest.« Dann verschränkte er die steinernen Klauen vor der Brust wie ein gnomenhafter Schuljunge, der ein Geschichtsreferat hält. »Ein verschlafener Fleck im Süden der Grafschaft Cornwall, der von König Johann höchstpersönlich die Stadtrechte verliehen bekommen hat. Der Mais steht ungefähr einen Meter hoch, also würde ich sagen, es ist wahrscheinlich mitten im Sommer. Ein Jammer, dass wir den Monat Mai verpasst haben – sie haben hier ein Blumenfest, das würdest du nicht glauben. Oder vielleicht würdest du es glauben! Dein früheres Ich war in den letzten beiden Jahren die Ballkönigin. Ihr Vater ist nämlich sehr reich. Hat