Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
kam. Auch er trug einen bemalten Speer, auf dessen Spitze ein Kopf steckte. Wenigstens waren dessen Augen geschlossen. Die wulstigen, toten Lippen umspielte ein schwaches Lächeln.
»Die Verlierer«, sagte Bill und schwirrte dicht an die Köpfe heran, um sie zu begutachten. »Na, bist du nicht froh, dass Daniels Mannschaft gewonnen hat? Was sie vor allem diesem Burschen hier zu verdanken haben.« Er schlug dem muskulösen Mann auf die Schulter, obwohl Daniels Mannschaftskollege nichts zu spüren schien. Dann schoss Bill wieder zur Tür hinaus.
Als Daniel endlich den Tempel betrat, ließ er den Kopf hängen. Seine Hände waren leer und seine Brust war nackt. Sein Haar und seine Haut waren dunkel, und seine Haltung war steifer, als Luce es von ihm gewohnt war. Alles, angefangen von der Art, wie die Bauchmuskeln auf die Brustmuskeln trafen, bis hin zu der Art, wie er die Hände schlaff herunterhängen ließ, war anders. Er war immer noch unwahrscheinlich schön, immer noch das schönste Wesen, das Luce je gesehen hatte, obwohl er dem Jungen, an den Luce sich gewöhnt hatte, überhaupt nicht ähnlich sah.
Doch dann sah er auf und seine Augen erstrahlten in genau dem gleichen Violett wie immer.
»Oh«, sagte sie leise und kämpfte verzweifelt gegen ihre Fesseln an, um sich aus den Klauen der Geschichte dieses Lebens zu befreien – von den Schädeln und der Dürre und dem Opfer – und Daniel für alle Ewigkeit festzuhalten.
Daniel schüttelte schwach den Kopf. Seine Augen blitzten kurz auf, als er sie ansah. Sein Blick beruhigte sie. Als würde er ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen solle.
Zotz bedeutete den drei Mädchen, aufzustehen, dann verließen auf sein Nicken alle den Tempel durch die Nordtür. Hanhau zuerst, mit Zotz an ihrer Seite, dicht hinter ihr Luce, und Ghanan bildete die Nachhut. Das Seil zwischen ihnen war gerade lang genug, dass jedes Mädchen die Hände am Körper halten konnte. Daniel trat neben Luce und der andere Sieger ging neben Ghanan her.
Daniels Fingerspitzen strichen flüchtig über ihre gefesselten Handgelenke. Bei der Berührung prickelte Ix Cuats Haut.
Die vier Trommler warteten auf dem Umgang vor der Tempeltür. Sie schlossen sich der Prozession an, und während die Gruppe die steile Treppe der Pyramide hinabstieg, schlugen sie die gleichen rasenden Rhythmen, die Luce gehört hatte, als sie in dieses Leben eingetreten war. Sie konzentrierte sich auf das Gehen und fühlte sich, als schwimme sie auf einer Welle, statt von sich aus eine Stufe nach der anderen zu nehmen. Und dann betrat sie am Fuß der Treppe den breiten, staubigen Pfad, der in den Tod führte.
Sie hörte nichts als die Trommeln, bis Daniel sich zu ihr beugte und flüsterte: »Ich werde dich retten.«
Etwas tief in Ix Cuat jubelte. Das war das erste Mal, dass er sie in diesem Leben angesprochen hatte.
»Wie?«, flüsterte sie zurück. Sie lehnte sich zu ihm und sehnte sich danach, dass er sie befreite und sie weit, weit fortflog.
»Keine Sorge.« Wieder strich er sanft über ihre Fingerspitzen. »Ich verspreche es, ich passe auf dich auf.«
Tränen brannten ihr in den Augen. Der Boden fühlte sich immer noch sengend heiß unter ihren Fußsohlen an, und sie marschierte immer noch zu dem Ort, an dem Ix Cuat sterben sollte, aber zum ersten Mal, seit sie in diesem Leben angekommen war, hatte Luce keine Angst.
Der Pfad führte durch zwei Reihen von Bäumen in den Dschungel hinein. Die Trommeln verstummten. Gesänge füllten Luce’ Ohren, die Gesänge der Menschenmenge tiefer im Dschungel am Cenote. Es war ein Lied, mit dem Ix Cuat aufgewachsen war, ein Gebet um Regen. Die beiden anderen Mädchen sangen mit bebender Stimme leise mit.
Luce dachte an Ix Cuats Worte, als Luce in ihren Körper eingedrungen war: Fliege mit mir davon, hatte sie in ihrem Kopf geschrien. Fliege mit mir davon.
Plötzlich blieben sie alle stehen.
Tief in dem durstigen, ausgetrockneten Dschungel öffnete sich vor ihnen der Pfad. Luce blickte auf einen riesigen, mit Wasser gefüllten Kalksteinkrater, der gut dreißig Meter breit war. Um ihn herum leuchteten ungeduldig die Augen der Maya. Es waren Hunderte. Sie hatten aufgehört zu singen. Der Augenblick, auf den sie gewartet hatten, war gekommen.
Der Cenote war ein Kalksteinloch, tief und bemoost und mit leuchtend grünem Wasser gefüllt. Ix Cuat war schon früher hier gewesen – sie hatte zwölf andere Opferzeremonien wie diese gesehen. Unter dieser stillen Wasseroberfläche lagen
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