Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
… war Luce.
Ix Cuat war klein und zart. Ihre Füße waren schmutzig und ihre Lippen rissig. Sie hatte von den drei verängstigten Mädchen die wildesten Augen.
»Worauf wartest du?«, rief Bill von seinem Platz auf dem Kopf der Statue aus.
»Werden sie mich nicht sehen?«, flüsterte Luce durch zusammengebissene Zähne. Bei den anderen Malen, als sie sich mit ihren früheren Ichs verbunden hatte, waren sie entweder allein gewesen, oder Bill hatte geholfen, sie abzuschirmen. Wie würde es für diese anderen Mädchen aussehen, wenn Luce in Ix Cuats Körper glitt?
»Diese Mädchen sind halb wahnsinnig vor Angst, seit sie als Opfer ausgewählt wurden. Was meinst du, wie viele Leute sich drum kümmern werden, wenn sie jetzt laut um Hilfe schreien?« Bill zählte gespielt übertrieben an den Fingern ab. »Richtig. Null. Es wird sie noch nicht einmal jemand hören.«
»Wer bist du?«, fragte eines der Mädchen mit erstickter Stimme.
Luce konnte nicht antworten. Als sie vortrat, flammte in Ix Cuats Augen so etwas wie Furcht auf. Doch dann streckten sie zu Luce’ großem Entsetzen beide gleichzeitig die Arme nacheinander aus, und ihr früheres Ich packte Luce’ Hände schnell mit hartem Griff. Ix Cuats Hände zitterten, doch sie waren warm und weich.
Sie setzte an, etwas zu sagen. Ix Cuat hatte angefangen zu sagen …
Fliege mit mir davon.
Luce hörte es in ihrem Kopf, als der Boden unter ihnen erbebte und alles zu vibrieren begann. Sie sah Ix Cuat, das Mädchen, das an einem Unglückstag geboren worden war und dessen Augen Luce sagten, dass es nichts über die Verkünder wusste. Aber es hatte Luce gepackt, als sei sie seine Rettung. Und Luce blickte von außen auf sich selbst und erkannte, dass sie müde und hungrig und zerlumpt aussah. Und irgendwie älter. Und stärker.
Dann kam die Welt wieder zur Ruhe.
Bill war vom Kopf der Statue verschwunden, aber Luce konnte nicht nach ihm suchen, weil sie sich nicht bewegen konnte. Ihre gefesselten Hände waren wund und mit schwarzen Opfertätowierungen versehen. Nicht, dass die Stricke von großer Bedeutung gewesen wären – Angst fesselte ihre Seele stärker, als jedes Seil es jemals vermocht hätte. Diese Reise in ihre eigene Vergangenheit war anders als sonst. Ix Cuat wusste genau, was sie erwartete. Der Tod. Und anders als Lys in Versailles schien sie ihn nicht zu begrüßen.
Ix Cuats Mitgefangene waren beide ein Stück von ihr abgerückt, so weit es ihre Fesseln ihnen erlaubten. Das dunkelhäutige Mädchen auf der linken Seite – Hanhau – weinte, das andere mit dem blau bemalten Körper – Ghanan – betete. Sie hatten Angst vor dem Tod.
»Du bist von einem Geist besessen!«, schluchzte Hanhau unter Tränen. »Du wirst das Opfer verunreinigen!«
Ghanan fand keine Worte.
Luce beachtete die Mädchen nicht und konzentrierte sich auf Ix Cuats eigene lähmende Angst. Ihr ging etwas durch den Kopf: Ein Gebet. Aber kein Gebet zur Vorbereitung auf das Opfer. Nein, Ix Cuat betete für Daniel.
Luce wusste, dass Ix Cuat beim Gedanken an ihn errötete und ihr Herz schneller schlug. Ix Cuat hatte ihn ihr ganzes Leben lang geliebt – aber nur von Ferne. Er war ein paar Häuser vom Heim ihrer Familie entfernt aufgewachsen. Manchmal hatte er ihrer Mutter auf dem Markt Avocados verkauft. Ix Cuat hatte jahrelang versucht, den Mut aufzubringen, ihn anzusprechen. Es quälte sie zu wissen, dass er nun auf dem Ballspielplatz war. Luce begriff, dass Ix Cuat darum betete, dass Daniel verlieren möge. Sie betete einzig darum, nicht von seiner Hand sterben zu müssen.
»Bill?«, flüsterte Luce.
Der kleine Gargoyle kam zurück in den Tempel geflogen. »Das Spiel ist vorbei! Die Menschen sind jetzt zum Cenote unterwegs. Das ist das Kalksteinloch, wo die Opferung stattfindet. Zotz und die Gewinner des Spiels kommen hier herauf, um euch Mädels zur Zeremonie zu begleiten.«
Luce zitterte, als der Lärm der Menge verebbte. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Daniel würde jetzt jeden Augenblick durch diese Tür kommen.
Drei Schatten verdunkelten den Eingang. Zotz, der Anführer mit dem rot und weiß gefiederten Kopfschmuck, betrat den Tempel. Keines der Mädchen rührte sich, sie starrten voller Entsetzen auf den langen Prunkspeer in seiner Hand. Ein menschlicher Kopf war darauf aufgespießt. Die Augen waren offen und schielten vor Anspannung, aus dem Hals tropfte noch Blut.
Luce sah weg, und ihr Blick fiel auf einen anderen, sehr muskulösen Mann, der jetzt in den Tempel
Weitere Kostenlose Bücher