Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
die verwesenden Überreste von hundert Leichen, hundert Seelen, die angeblich direkt in den Himmel gefahren waren – nur dass Luce in dem Moment wusste, dass Ix Cuat sich nicht sicher war, ob sie irgendetwas von alldem glauben sollte.
Ix Cuats Familie stand am Rand des Cenote. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre zwei jüngeren Schwestern, die beide Babys in den Armen hielten. Sie glaubten an das Ritual, an das Opfer, das ihnen ihre Tochter nehmen und ihnen das Herz brechen würde. Sie liebten sie, aber da Ix Cuat an einem Unglückstag geboren worden war, dachten sie, dies sei die beste Möglichkeit für sie, sich reinzuwaschen.
Ein Mann mit Zahnlücken und langen goldenen Ohrringen führte Ix Cuat und die beiden anderen Mädchen zu Zotz, der einen prominenten Platz am Rand des Kalksteinbeckens eingenommen hatte. Er warf einen Blick in das tiefe Wasser. Dann schloss er die Augen und setzte zu einem neuen Singsang an. Die versammelte Menge und die Trommler fielen ein.
Jetzt stand der Mann mit den Zahnlücken zwischen Luce und Ghanan und schlug mit seiner Axt auf das Seil, das sie aneinanderband. Luce spürte einen Ruck nach vorn und das Seil war durchtrennt. Ihre Hände waren noch immer gefesselt, aber sie war jetzt nur noch mit Hanhau auf ihrer rechten Seite verbunden. Ghanan wurde zu Zotz geführt.
Das Mädchen wiegte sich leise singend vor und zurück. Schweiß rann ihm den Nacken hinunter.
Als Zotz das Gebet an den Regengott zu sprechen begann, beugte Daniel sich zu Luce vor. »Sieh nicht hin.«
Also heftete Luce den Blick auf Daniel und er schaute auf sie. Überall um den Cenote herum hielten die Menschen den Atem an. Daniels Mannschaftskollege grunzte und ließ die Axt schwer auf den Hals des Mädchens niedersausen. Luce hörte die Klinge glatt hindurchgehen, dann den leisen Aufprall von Ghanans Kopf, der auf dem Boden landete.
Das Gebrüll der Menge schwoll wieder an: Dankesrufe an Ghanan, Gebete für ihre Seele im Himmel, inbrünstige Wünsche nach Regen.
Wie konnten Menschen ernsthaft denken, dass die Er mordung eines unschuldigen Mädchens ihre Probleme löse n könnte? Normalerweise würde Bill jetzt auftauchen. Aber Luce konnte ihn nirgendwo sehen. Er hatte ein Talent dafür, zu verschwinden, wenn Daniel erschien.
Dann hörte Luce ein tiefes, hallendes Platschen und wusste, dass der Leichnam des Mädchens seinen letzten Ruheort gefunden hatte.
Der Mann mit den Zahnlücken trat zu ihnen. Diesmal durchtrennte er die Fesseln, mit denen Ix Cuat an Hanhau gebunden war. Luce zitterte, als er sie vor den Stammesführer brachte. Die spitzen Steine bohrten sich in ihre Füße. Sie spähte über den Kraterrand in den Cenote. Ihr wurde fast übel, aber dann erschien Daniel an ihrer Seite, und sie fühlte sich besser. Er bedeutete ihr mit einem Nicken, Zotz anzusehen.
Der Stammesführer strahlte sie an und zeigte dabei zwei Topase in seinen Schneidezähnen. Dann stimmte er ein Gebet an, dass Chaak sie akzeptieren und der Gemeinschaft viele Monate fruchtbaren Regens bringen möge.
Nein, dachte Luce. Es war alles falsch. Flieg mit mir davon! , rief sie im Stillen Daniel zu. Er wandte sich ihr zu, beinahe so, als habe er sie gehört.
Der Mann mit den Zahnlücken wischte Ghanans Blut mit einem Stück Tierhaut von der Axt. Feierlich überreichte er Daniel die Klinge, der Luce nun gegenüberstand. Daniel wirkte erschöpft, als ziehe ihn das Gewicht der Axt nach unten. Seine Lippen waren geöffnet und blutleer und seine violetten Augen waren fest auf Luce gerichtet.
Die Menge schwieg und hielt den Atem an. Heißer Wind raschelte in den Bäumen, als die Axt in der Sonne aufblitzte. Luce konnte spüren, dass das Ende nahte, aber warum? Warum hatte ihre Seele sie hierher gezerrt? Welchen Einblick in ihre Vergangenheit oder den Fluch konnte sie dadurch gewinnen, dass man ihr den Kopf abschlug?
Dann ließ Daniel die Axt zu Boden fallen.
»Was tust du da?«, fragte Luce.
Daniel antwortete nicht. Er ließ die Schultern kreisen, wandte das Gesicht dem Himmel zu und streckte die Arme aus. Zotz trat vor, um einzugreifen, aber als er Daniel an der Schulter berührte, schrie er auf und prallte zurück, als habe er sich verbrannt.
Und dann …
Daniels weiße Flügel entfalteten sich auf seinen Schultern. Als sie sich vollständig ausbreiteten, riesig und erschreckend hell vor der braunen, ausgedörrten Landschaft, schleuderten sie zwanzig Maya zurück.
Rufe erschollen rings um den Cenote:
»Was ist er?«
»Der Junge hat
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