Engelsfluch
in diesem Monat eine seiner zahlreichen und ebenso blutigen wie fruchtlosen Offensiven am Isonzo, der aus den Alpen kommt und in den Golf von Triest mündet. Auch hier in den Bergen rund um Pescia wird man den Krieg gespürt haben, weil die meisten Männer an der Front kämpften. Für die Daheimgebliebenen aber, vornehmlich die Alten, die Frauen und die Kinder, ging das Alltagsleben weiter wie gewohnt. Wo die Männer fehlten, mussten die anderen eben Hand anlegen. Am dreizehnten Mai gingen zwei Kinder, die Brüder Angelo und Fabrizio Piranesi, wie gewohnt mit der kleinen Ziegenherde von Borgo San Pietro auf die Weide, die ein paar Kilometer vom Dorf entfernt hinter einer Anhöhe verborgen lag. Was dann genau geschah, ist nur gerüchteweise bekannt. Es heißt, die beiden hätten eine Erscheinung gehabt. Ein gleißendes Licht sei am Himmel aufgetaucht, aus dem ein Engel zu ihnen herab gestiegen sei. Dieser Engel, ein Bote Gottes, habe ihnen eine Prophezeiung von schrecklichem Ausmaß gemacht.«
»Und Sie glauben, der Einsiedler sei jener Angelo Piranesi?«
»Es wäre doch möglich. Fabrizio Piranesi ging wenige Jahre nach der Prophezeiung, kaum dass er erwachsen war, in ein Kloster und ist dort 1989 verstorben. Über das Schicksal seines Bruders ist nichts weiter bekannt. In einem alten Zeitungsbericht heißt es, er habe sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Wäre es nicht möglich, dass jener Engel, falls er den Brüdern wirklich erschienen ist, nicht nur eine Prophezeiung, sondern auch jene heilende Kraft übermittelt hat?«
»Das ist reine Spekulation«, seufzte Enrico und dachte daran, dass es für die Menschen in Borgo San Pietro gar keines Engels bedurfte, um sie mit der heilenden Kraft auszustatten. Laut Fabius Lorenz Schreibers Reisetagebuch hatten sie schon vor zweihundert Jahren über diese mysteriöse Macht verfügt. Enrico beschloss, das Tagebuch Vanessa gegenüber vorerst nicht zu erwähnen. Noch kannte er sie kaum und hatte keine Ahnung von ihren wahren Absichten. »Wie kommt es, dass ich von dieser Prophezeiung noch nie etwas gehört habe?«
»Es war Krieg, der Erste Weltkrieg. Die Leute hatten anderes im Sinn als das seltsame Erlebnis zweier halbwüchsiger Ziegenhirten in den oberitalienischen Bergen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass der Vatikan alles unternommen hat, um die Prophezeiung geheim zu halten. Laut meiner Information liegt eine Niederschrift der Weissagung im Geheimarchiv des Vatikans, und zwar in dem Teil, der auch der Forschung verschlossen bleibt. Aus irgendeinem Grund fürchtet die Kirche das Bekanntwerden des Inhalts.«
»Und Sie hoffen, von Angelo die Wahrheit zu erfahren?«
»Wenn er Angelo Piranesi ist, ja.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sonderlich daran interessiert ist, etwas über sich zu erzählen.«
»Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nicht erfahren.«
Enrico gab etwas Zucker in seinen Cappuccino und sagte nachdenklich: »Das Ganze erinnert mich an diese Prophezeiung von Fatima. Stammt die nicht auch aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert?«
»Sogar exakt aus dem Jahr 1917. Hier waren es drei Kinder, die mehrere Marienerscheinungen hatten. Die erste datiert übrigens vom dreizehnten Mai.«
Er wollte gerade einen Schluck trinken und hob die Tasse, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Das ist doch derselbe Tag!«
»Ganz recht, derselbe Tag. Ein seltsamer Zufall, wenn es denn einer ist, nicht wahr?«
»Ich weiß wenig mehr von dieser Fatimageschichte als den Namen. Vielleicht könnten Sie mich ein wenig aufklären?«
»Gern«, sagte Vanessa lächelnd und berichtete von den drei Hirtenkindern aus dem portugiesischen Dorf Fatima, von ihren Erscheinungen und von den drei Prophezeiungen, deren dritte vom Vatikan erst vor wenigen Jahren veröffentlicht worden war.
»Die dritte Prophezeiung spricht von einem Attentat auf den Papst?«, fragte Enrico. »Erst im Mai hat man versucht, Papst Custos zu töten.«
»Ja, aber die Prophezeiung spricht von einem Berg und einem großen Kreuz. Das Attentat auf Custos fand jedoch im Vatikan statt.«
»Dort gibt es viele Kreuze. Und ist der Vatikan nicht gleichsam der Berg der Christenheit? Die Päpste sehen sich als Nachfolger von Petrus, und dessen Name bedeutet nichts anderes als Fels.«
»Respekt, Enrico! Vielleicht hätten Sie besser Theologie statt Jura studieren sollen. Ihr Mut zu kühnen Auslegungen wäre Ihnen da hilfreich gewesen.«
»Ich glaube, im Auslegen stehen die Juristen den Theologen
Weitere Kostenlose Bücher