Engelsfluch
verlassen?«
Vanessa lächelte hintergründig. »Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«
»Wenn er von Ihrem Ausflug Wind bekommt, könnte er Sie leicht zur Fahndung ausschreiben lassen.«
»Soll er doch. Dann sehen wir, ob seine Leute wenigstens falsche Mörder fangen können, wenn es ihnen schon mit echten nicht gelingt.«
»Seien Sie nicht ungerecht, Vanessa! Wir selbst sind durch das Durcheinander, das wir in der Kirche veranstaltet haben, vielleicht nicht ganz unschuldig daran, dass die Mörder entkommen konnten. Aber schließlich ist es Ihre Sache, wenn Sie sich der Gefahr einer Verhaftung aussetzen. Mich interessiert viel mehr, warum Sie das tun.«
»Ah, beginnt jetzt das Kreuzverhör, Herr Rechtsanwalt?«
»Finden Sie nicht, dass Sie mir eine Erklärung schulden?
Schließlich sind Sie mir hinterhergefahren und nicht ich Ihnen!«
»Jaja, wir modernen Frauen übernehmen schon mal gern die aktive Rolle«, spottete sie, offenbar nicht gewillt, es Enrico leicht zu machen.
»Das Unwetter scheint noch eine ganze Weile anzuhalten«, stellte er mit einem Blick nach draußen fest. »Wir haben also viel Zeit, um Spielchen zu spielen. Allerdings halte ich es für produktiver, wenn wir den Smalltalk beenden.«
»Meinetwegen«, sagte sie und klang auf einmal sehr sachlich.
»Aber mir wäre es recht, wenn das kein einseitiges Gespräch wird.«
»Soll heißen?«
»Dass ich auch ein paar Dinge erfahren will.«
»Kann ich mir denken.«
»Wieso?«
»Weil Sie mir auf der Fahrt in die Berge so treu gefolgt sind wie ein Sancho Pansa seinem Herrn Don Quijote. Da darf ich wohl eine gewisse Portion Neugier vermuten, auch wenn Sie eine ›moderne Frau‹ sind.«
»Also ein Spiel mit offenen Karten?«, fragte sie.
»Das wäre mir am liebsten.«
»Und Sie beantworten mir auch meine Fragen?«
»Ja, sofern ich den Eindruck habe, dass Sie offen und ehrlich zu mir sind.«
»Gut, lassen wir’s drauf ankommen. Was wollen Sie wissen, Enrico?«
»Was suchen Sie hier in den Bergen?«
»Ich will herausfinden, welches Geheimnis in Borgo San Pietro verborgen ist, genau wie Sie.«
»Ich bin hier nur als Tourist unterwegs.«
Vanessa lachte hart. »Sind Sie der Mann, der gerade die Worte ›offen und ehrlich‹ benutzt hat? Wenn ja, dann erzählen Sie mir doch mal etwas über Ihren mysteriösen Einsiedler!«
Enrico war ehrlich überrascht. »Woher wissen Sie denn von dem?«
»Ich habe einen Informanten im Vatikan. Das ist ganz nützlich, wenn man dem vatikanischen Geheimarchiv seine wahren Geheimnisse entlocken will. Durch ihn bin ich in etwa über das informiert, was Sie hier erlebt haben.«
»Wer ist Ihr Informant?«
»Ich bin bereit, Ihnen einiges zu verraten, aber das ganz sicher nicht. Auch Sie als Anwalt sollten wissen, dass Informanten nicht länger Informanten sind, wenn man sie preisgibt.«
»Aber dann sagen Sie mir vielleicht, was Sie an diesem Einsiedler – sein Name ist übrigens Angelo – interessiert?«
»Angelo?«, fragte Vanessa mit plötzlicher Erregung.
»Wirklich?«
»So lässt er sich nennen. Warum ist das so wichtig für Sie?«
»Weil es darauf hindeutet, dass er der Mann ist, den ich suche.«
»Welcher Mann?«
»Angelo Piranesi.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Der Mann, den ich suche, muss sehr alt sein, hundert Jahre oder mehr.«
»Der Angelo, den ich kenne, ist sehr alt. Aber ob er wirklich hundert oder darüber ist? Dafür erschien er mir recht rüstig.«
»Erzählen Sie mir von ihm!«, bat Vanessa. Da sie ohnehin über die Ereignisse in Borgo San Pietro und in Pescia Bescheid zu wissen schien, zumindest im Groben, sah Enrico keine Gefahr darin, ihrer Bitte nachzukommen. Er berichtete, wie er und Elena von den Dorfbewohnern verfolgt und durch das Auftauchen des Alten gerettet worden waren. Als er anschließend von Elenas Heilung erzählte, beobachtete er sein Gegenüber genau. Er konnte in Vanessas Zügen allenfalls eine leichte Überraschung festmachen, keinesfalls aber Unglauben oder gar Spott.
»Aber jetzt fragen Sie mich bitte nicht, woher Angelo diese seltsame Kraft hat!«, schloss er.
»Vielleicht von Gott«, sagte sie mit ernstem Gesicht. »Oder von einem Engel, was aufs selbe hinausläuft.«
»Von Gott oder einem Engel?«, wiederholte er elektrisiert.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, Enrico. Sie beginnt im Mai 1917, als die Staaten Europas und darunter auch Italien miteinander im Krieg lagen. Italien startete
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