Engelsfluch
nicht viel nach«, sagte Enrico, während er den Kuchen probierte. »Wie hat doch der Jurist Goethe gesagt: ›Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter.‹«
»Der hatte es ja auch mit der Theologie, wenn ich an den
›Faust‹ denke. Um auf die dritte Prophezeiung von Fatima zurückzukommen, natürlich gibt es darüber die unterschiedlichsten Theorien. Meine Hoffnung ist, dass die Weissagung von Borgo San Pietro hilft, die dritte Prophezeiung von Fatima zu entschlüsseln.«
»Jetzt sprechen Sie aber kühne Gedanken aus, Vanessa. Wie kommen Sie darauf?«
»Ein Gerücht besagt, dass die beiden Prophezeiungen dasselbe beinhalten. Schließlich fanden sie auch am selben Tag statt.«
»Mit dem Unterschied, dass Fatima weltbekannt ist, während kein Mensch von Borgo San Pietro gehört hat.«
»Das ist leicht zu erklären. Zwar hat Portugal wie auch Italien im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn gekämpft, aber die Portugiesen waren nicht so unmittelbar betroffen wie die Italiener, die an den eigenen Grenzen Schlacht um Schlacht schlugen. Die Portugiesen hatten zwar ein Expeditionskorps an die Westfront nach Frankreich entsandt, und weitere portugiesische Truppen kämpften in Afrika, aber der Krieg war für sie viel weiter weg als für die Italiener. Da hatte es die Erscheinung von Fatima leichter, Aufmerksamkeit zu erregen. Auch gab es in Fatima mehrere Erscheinungen, die sich über einen Zeitraum von sechs Monaten erstreckten, während es in Borgo San Pietro bei dem einen Ereignis vom dreizehnten Mai geblieben ist. Jedenfalls ist keine weitere Erscheinung in dieser Gegend bekannt geworden. Da hatte es der Vatikan mit der Sache in Borgo San Pietro ungleich leichter, den Deckel drauf zuhalten.«
»Klingt logisch. Trotzdem habe ich noch ein paar Fragen.«
»Und die wären?«
»Glauben Sie daran, dass Gott Boten mit Nachrichten, nennen wir sie Engel, zu den Menschen schickt?«
»Warum fragen Sie mich nicht gleich, ob ich an Gott glaube Enrico?«
»Davon gehe ich bei einer Theologin aus.«
Vanessa trank ihren Latte Macchiato aus und sagte zögernd:
»Ich weiß nicht, was die drei Hirtenkinder in Fatima und was die beiden Brüder hier wirklich gesehen oder sich zu sehen eingebildet haben. Für die Himmelslichter in Fatima gibt es zahlreiche Zeugen, aber für die Erscheinung Marias, die zuweilen auch als Engel bezeichnet wird, haben wir nur das Zeugnis der drei Kinder. Allen anderen blieb sie verborgen.
Haben die drei sich nun aufgrund der Himmelslichter etwas eingeredet, das sie später weitergesponnen haben, um nicht aufzufliegen, oder einfach nur, weil sie Spaß daran hatten?
Möglich ist es, aber ich glaube es nicht. Dann hätte der Vatikan nicht ein so großes Interesse an dem Ereignis gezeigt. Außerdem wurde das Leben der portugiesischen Hirtenkinder durch die Erscheinungen einschneidend beeinflusst – falls man bei den Geschwistern Francisco und Jacinta Marto überhaupt von einem Leben sprechen kann. Sie wurden beide nicht alt. Wenn man Francisco fragte, was er später werden wolle, wenn er erwachsen sei, sagte er, er wolle nicht erwachsen werden. Er wolle nur sterben und in den Himmel kommen. Im August 1918
erkrankte er schwer an Grippe, und im April des folgenden Jahres starb er. Seine kleine Schwester Jacinta entwickelte sich infolge der Erscheinungen zu einer regelrechten Asketin. Sie verzichtete oft aufs Mittagessen oder nahm an heißen Tagen keine Flüssigkeit zu sich. Auch hierin könnte man den Wunsch nach einem frühen Tod sehen, zu dem es schließlich auch kam.
Jacinta infizierte sich ebenfalls mit Grippe, zu der sich eine Tuberkulose gesellte, an deren Folgen sie starb. Nur ihrer Cousine Lucia de Jesus Santos war ein langes Leben beschert, und das verbrachte sie im Kloster.«
»So wie Fabrizio Piranesi, der vermeintliche Bruder unseres Einsiedlers.«
»Ja. Und jetzt sagen Sie selbst, Enrico, klingt das nach einem Kinderstreich?«
»Nein. Aber vielleicht haben die Kinder sich früh für ein geistliches Leben entschieden und dachten, ein wenig Budenzauber kann da nicht schaden. Dass die beiden Geschwister aus Fatima krank wurden und starben, kann ein Zufall gewesen sein.«
Vanessa schüttelte vehement den Kopf. »Für ein Leben als Priester, Mönch oder Nonne entscheidet man sich als junger Erwachsener, aber nicht als Kind. Was wollten Sie werden, als Sie zehn waren?«
»Erst Bundesligaprofi, später Popstar.«
»Na, sehen
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