Engelsfluch
Kräfte erfahren.«
»Genau das habe ich vor. Wenn ich mich im Hotel frisch gemacht habe, will ich hinauf in die Berge, um dem Geheimnis von Borgo San Pietro etwas näher auf den Leib zu rücken.«
Elena hob die Brauen an. »Weißt du etwas Neues?«
Enrico überlegte, ob er sie einweihen solle. Sie war eine kluge Frau und im Aufspüren von verborgenen Dingen schon von Berufs wegen erfahren. Vielleicht fand sie in Fabius Lorenz Schreibers Reisebericht einen Hinweis, den er übersehen hatte.
»Sprichst du Deutsch?«, fragte er.
»Etwas. Seit ich mit Alexander zusammen bin, hat sich mein Deutsch verbessert.«
»Kannst du es auch lesen?«
»Besser als sprechen, um ehrlich zu sein, aber nicht besonders gut. ›Krieg und Frieden‹ würde ich mir in deutscher Sprache nicht vornehmen, aber zum Verstehen eines Zeitungsartikels reicht es.«
»Dann warte auf mich. In zehn Minuten bin ich wieder da.«
Er ging zu seinem Wagen und holte das alte Tagebuch aus seiner Reisetasche. Als er es Elena in die Hand drückte, betrachtete sie es verwundert.
»Was ist das?«
»Ein nicht weniger interessantes Buch wie ›Krieg und Frieden‹ und es spielt auch zur Zeit Napoleons. Allerdings ist es nicht ganz so umfangreich.«
Elena schlug das Buch auf, und ihre Augen weiteten sich. »O
Gott, was ist das für eine Handschrift?«
»Eine alte, ich hatte auch Schwierigkeiten, mich daran zu gewöhnen.«
»Aber du bist mit der deutschen Sprache aufgewachsen. Es kann ja ewig dauern, bis ich das Buch durchhabe!«
Enrico grinste. »Du hast doch Zeit! Außerdem lohnt sich die Lektüre. Du wirst dich bestimmt nicht langweilen.«
Nach dem Besuch bei Elena fuhr Enrico kurz ins Hotel, brachte seine Sachen aufs Zimmer, duschte und zog sich um.
Dann stieg er wieder in den kleinen Fiat und machte sich auf den Weg hinauf in die Berge. Das Wetter hatte sich verschlechtert. Wolken zogen über den Bergen auf, als wollten sie sich formieren, um das Geheimnis von Borgo San Pietro vor Enrico zu verbergen. Er hoffte, es würde keinen Regen geben.
Die Vorstellung, auf der Suche nach Angelo über aufgeweichte, schlammige Waldpfade zu stapfen, erschien ihm wenig angenehm. Es würde ohnedies nicht leicht sein, Angelo zu finden. Hoffentlich fand er den Weg wieder, den Ezzo Pisano vor drei Tagen genommen hatte. Natürlich konnte er versuchen, den Alten um Hilfe zu bitten. Aber er versprach sich davon nicht viel. Angelo hatte deutlich gemacht, dass er für sich bleiben wolle, und Pisano würde das vermutlich respektieren. Mehr noch, vielleicht würde Pisano den Einsiedler warnen, dass Enrico nach ihm suchte. Deshalb hielt Enrico es für das Beste, den Weg zu Angelo erst einmal auf eigene Faust zu suchen.
Die Bergstraße war wie üblich wenig befahren. Hin und wieder tauchte in seinem Rückspiegel ein gelber Kleinwagen auf, der sich aber keine Mühe gab, zu Enricos Fiat aufzuschließen oder ihn gar zu überholen. Letzteres wäre angesichts der engen Fahrbahn auch ein riskantes Manöver gewesen. Das gelbe Fahrzeug schien exakt denselben Weg zu haben wie er. Schon kurz hinter dem Hotel war es ihm zum ersten Mal aufgefallen. Intuitiv fuhr Enrico an einer Straßengabelung nicht weiter in Richtung Borgo San Pietro, sondern nahm die andere Richtung. Ein verwittertes Schild wies auf mehrere Bergdörfer hin, die von dieser schmalen, nur unzureichend asphaltierten Straße tangiert wurden. Die Strecke schlängelte sich kurvenreich in die Höhe. Auf dem ersten geraden Straßenabschnitt sah er wieder den gelben Fleck im Rückspiegel. Hundert Meter vor Enrico führte ein kleiner Feldweg, gerade breit genug für einen Kleinwagen, nach links.
Er setzte frühzeitig den Blinker, damit der Fahrer des gelben Wagens auf jeden Fall mitbekam, dass er abbog. Er hatte keine Ahnung, wohin der Feldweg führte. Ein Hinweisschild gab es nicht. Aber das war auch nicht wichtig, er hatte nicht vor, lange über die unebene Piste zu rumpeln. Als er den gelben Wagen erneut im Rückspiegel sah, war sein Plan gefasst. In der ersten Kurve hielt er an und stieg aus. Da bog das andere Fahrzeug, ebenfalls ein Fiat, auch schon um die Kurve. Als der Fahrer den haltenden Wagen bemerkte, trat er sofort auf die Bremse, und nach kurzem Schleifen auf dem sandigen Grund kam der Wagen nur zehn Zentimeter hinter Enricos Stoßstange zum Stehen.
Sofort sprang Enrico zur Fahrertür des gelben Kleinwagens und riss sie auf. Erstaunt stellte er fest, dass er nicht einen Fahrer, sondern eine Fahrerin vor sich
Weitere Kostenlose Bücher