Engelsfluch
Angelo. Ohne Ihr Einschreiten wären wir« – er blickte auf Elena – »jetzt vermutlich beide tot.«
»Es ist nicht recht, zu töten, weder einen Schuldigen noch einen Unschuldigen«, sagte Angelo, und es hörte sich an wie ein Satz, den er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte.
»Wir beide sind unschuldig!«, beteuerte Enrico.
»Das weiß ich.«
»Sie wissen das? Woher?«
Angelo lächelte schwach. »Ich spüre es.«
Enrico zeigte auf die großen Steinbauten. »Leben Sie hier?«
»Ja.«
»In diesen … diesen Hütten?«
»Es sind Häuser für die Toten.«
»Sie meinen Gräber?«
»Gräber, ja.«
»Und wer ist hier begraben?«
»Menschen aus dem Volk, das vor vielen hundert Jahren in diesen Bergen lebte. Etrusker.«
Enrico versuchte, mehr über den Mann zu erfahren, aber dessen Antworten waren einsilbig, und irgendwann versiegte das Gespräch. Enrico verfiel in eine Art Lethargie, aus der er erst erwachte, als der schrille Ton von Sirenen die Stille des Waldes hinwegfegte. Der Lärm kam näher, und noch niemals in seinem Leben hatte Enrico sich so über das Heulen von Sirenen gefreut.
Ein ziviler Geländewagen rumpelte durch das unwegsame Gebiet und blieb etwa fünfzig Meter entfernt stehen, weil es dort kein Durchkommen mehr gab. Eine Frau um die fünfzig mit Kurzhaarfrisur und altmodischer dicker Hornbrille lief zu ihnen, in der rechten Hand einen Notarztkoffer. Enrico winkte ihr, und sie kniete sich neben Elena nieder, wobei sie ihren Namen murmelte: »Dr. Riccarda Addessi.«
Sie untersuchte Elena eingehend und sagte: »Ein sehr ernster Zustand. Zum Glück wurde die Blutung gestillt. Wie haben Sie das gemacht?«
»Ich war das nicht«, antwortete Enrico und erinnerte sich, wie der alte Mann mit der Hand über Elenas Kopf gestrichen hatte.
»Wenn das jemand erklären kann, dann Angelo.«
»Und wer ist dieser Angelo?«
Enrico wollte ihr den Alten zeigen, aber so genau er sich auch umsah, Angelo war verschwunden. Zwei Sanitäter mit einer zusammengeklappten Bahre erschienen im Laufschritt.
Ihre Ambulanz, die nicht so geländegängig war wie Dr.
Addessis Wagen, parkte ein gutes Stück entfernt. Während sie Elena unter Anleitung der Ärztin vorsichtig auf die Bahre legten, erschienen Männer in Polizeiuniform, begleitet von einem Priester.
»Da ist ja Pfarrer Umiliani«, rief eine Frau aus der Menge.
»In seiner Küche wurde der Mord begangen, und der da ist’s gewesen!« Dabei zeigte sie auf Enrico.
Sofort wurden andere Stimmen laut, die ebenfalls’ Enrico beschuldigten, den Bürgermeister ermordet zu haben. Enrico war froh, dass die Sanitäter Elena abtransportierten. Wenn der Zorn der Dörfler wieder hochkam, war wenigstens sie in Sicherheit, falls man das Wort in Anbetracht ihres Zustands überhaupt benutzen durfte.
»Ruhe!«, brüllte ein beleibter Polizist so laut, dass tatsächlich Schweigen einkehrte und aller Augen sich neugierig auf ihn richteten. »Dieser Fremde ist nicht der Mörder eures Bürgermeisters. Ihr habt zwei Unschuldige verfolgt.«
Wieder brandete ein Durcheinander von Stimmen auf:
»Lüge!« – »Woher wollen Sie das wissen?« – »Cavaras kleiner Sohn hat die zwei doch bei der Leiche gesehen!« – »Die Polizei deckt die Fremden!«
»Ich decke niemanden!«, erwiderte der Polizist in schneidendem Tonfall. »Was ich sage, ist wahr. Und ich weiß das, weil sich der Mörder vor wenigen Minuten gestellt hat. Er hat am Ortseingang auf uns gewartet.«
»Wer ist es?« – »Wer hat Benedetto Cavara auf dem Gewissen?« – »Zeigen Sie uns doch den wahren Mörder, wenn Sie ihn haben!«
Der Polizist drehte sich ein Stück zur Seite und sah den Priester an. »Pfarrer Umiliani hat zugegeben, den Bürgermeister Cavara getötet zu haben.«
Sämtliche Stimmen verstummten, und die Blicke der Dorfbewohner richteten sich auf ihren Pfarrer, voller Unglauben und Entsetzen.
Rom, im Borgo Pio
Das »Fame da Lupi« lag nur einen Steinwurf vom Vatikan entfernt, was für die Schweizergardisten einen praktischen Vorteil hatte: Sie konnten die Zeit bis zum Zapfenstreich fast bis zur letzten Minute genießen. Der Borgo Pio, das alte Pilgerviertel in unmittelbarer Nachbarschaft des Vatikans, war voller Bars und Restaurants, denn Pilger, die Hunger und Durst haben und denen das Geld locker sitzt, gibt es zu allen Zeiten.
Zudem übte das Stadtviertel aufgrund seines urwüchsigen Charmes auf Touristen einen besonderen Reiz aus. Während man ringsherum in den vergangenen Jahrzehnten
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