Engelsfluch
ganze Straßenzüge abgerissen, Straßen begradigt und modernere, aber auch schmucklosere Häuser gebaut hatte, war der Borgo Pio ein Stück altes Rom geblieben. Deshalb lauerten hier viele Touristenfallen, in denen ebenso überteuertes wie schlechtes Essen an Gäste verkauft wurde, die ohnehin nicht wiederkommen würden. Aber es gab auch gute Lokale jeder Preisklasse, die man daran erkannte, dass hier die im Vatikan Tätigen anzutreffen waren, Kardinäle und
Verwaltungsangestellte, Gendarmen und Schweizer. Selten mischten sich die verschiedenen Gruppen in einem Lokal. Wo die Kardinäle dinierten, konnten Angestellte und Wachpersonal sich kein Essen leisten. Gendarmen und Schweizer wiederum waren einander schon aus Tradition nicht grün. Wenn ein Schweizer sich in ein Gendarmenlokal verirrte oder umgekehrt, hatte es für den Betreffenden böse Folgen. So hatte jedes der anständigen Lokale im Borgo Pio unter den Vatikanleuten seine spezielle Stammkundschaft. Entweder es wählte durch Preise und Ambiente seine Klientel selbst, oder aber das jeweilige Haus war von einer Berufsgruppe okkupiert worden. So war es dem »Farne da Lupi« ergangen, wie man Alexander erzählt hatte. Eines Abends waren die Schweizer hier eingezogen, hatten sich wohl gefühlt und das Lokal kurzerhand für die Stunden nach Dienstschluss zu ihrem Hauptquartier erklärt.
Als Alexander eintrat, schlug ihm ein Gemisch aus Zigarettenqualm, Küchengerüchen, Bier-und Weindunst
entgegen. Einem Kardinal hätte es hier gewiss nicht behagt, für einen Schweizer war es gerade richtig. Das »Farne da Lupi«
hatte eine rustikale Einrichtung mit viel Holz, und an den Wänden hingen ein paar Ölschinken. Offenbar hatten sich die Betreiber inzwischen auf ihre neue Stammkundschaft eingestellt: Eins der Bilder war eine Kopie der Kreuzigungsszene, deren Original in der Kirche Santa Maria auf dem Campo Santo Teutonico, dem deutschen Friedhof auf dem Vatikangelände, hing. Das Gemälde vermischte die Kreuzigung Jesu mit der Geschichte der Schweizergarde. Im Vordergrund umklammerte kauernd jener Kaspar Röist das große Kreuz mit dem Heiland, der als Gardehauptmann im Mai 1527 bei der Verteidigung des Vatikans gegen die deutschen Landsknechte sein Leben geopfert hatte. Eine Seitenkapelle der Kirche diente als Grablege für die in diesem Kampf gefallenen Schweizer, weshalb die Kirche mit dem Gemälde so ziemlich das Erste war, was einem frisch gebackenen Gardisten gezeigt wurde.
Alexander blieb am langen Tresen stehen und ließ seinen Blick durch das verwinkelte Lokal schweifen. An einem der hinteren Tische entdeckte er endlich ein paar bekannte Gesichter, darunter das asketische von Gardeadjutant Werner Schardt. Das Gemälde ist ein guter Anknüpfungspunkt, um ins Gespräch zu kommen, dachte Alexander und steuerte den Tisch an. Aber er kam nicht weit. Schon nach den ersten Schritten hielt eine Hand seinen linken Arm fest, und eine fremde Stimme rief: »Na, wenn das nicht Alexander Rosin ist, der Held der Schweizergarde. Komm, setz dich zu uns, Kamerad!«
Der Sprecher war ein junger Mann, sehr groß und kräftig, mit rotblondem Haar und einem Babyface, das ein wenig zu rundlich wirkte. Zwei weitere Männer saßen an dem Tisch, ebenfalls noch sehr jung. Alexander kannte keinen der drei. Sie mussten zu den Schweizern gehören, die man nach den Vorfällen im Mai sehr überhastet rekrutiert hatte. Alexander nahm auf dem letzten freien Stuhl am Tisch Platz. Wenn diese Jungs um seine Gesellschaft baten, warum nicht? Ihm war es nur wichtig, mehr über die aktuelle Lage in der Schweizergarde zu erfahren, über die Stimmung in der Truppe, über die Gerüchte, die überall dort blühen, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenhocken.
Der pausbäckige Rotblonde hieß Martin Gloor und kam aus dem Kanton Zürich. Er war der Wortführer der drei, das war schnell klar, und er gefiel sich in dieser Rolle. Anfangs fragte er Alexander über die Vorfälle im Mai aus, aber je mehr Bier floss, desto besser gelang es Alexander, den Spieß umzudrehen und seine Fragen zu stellen. Martin Gloor zum Reden zu bringen war nicht weiter schwer. Zwischen den Zeilen hörte Alexander einiges über Eifersüchteleien innerhalb der Garde. Die altgedienten Schweizer waren neidisch auf die jungen Rekruten, die in der Hierarchie schneller als üblich aufstiegen, damit die Lücken gefüllt werden konnten. Aus Gloors Sicht war dieser Aufstieg natürlich hochverdient, und er bezeichnete seine älteren
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