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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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bitter, dass Gott nicht mit sich handeln ließ – falls Er überhaupt auf einen Menschen hörte, noch dazu auf einen so wenig religiösen wie Enrico. Er war ein Narr gewesen, als er vorhin in der Bank gekauert und gehofft hatte, jenes so wenig greifbare Wesen, das die Menschen Gott nannten, habe ein Interesse daran, Elena zu helfen. Warum auch? Selbst wenn es einen Gott gab, warum hätte Er für einen Menschen in Not – für Elena auch nur einen Finger rühren sollen?
    »Wie haben Sie in Borgo San Pietro so schnell davon erfahren?«, fragte Enrico verwirrt. »Ich bin vor kaum einer Stunde bei Elena gewesen, und da lebte sie noch – falls man es leben nennen kann.«
    Pisano legte den Kopf schief und sah Enrico fragend an.
    »Elena? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
    Allmählich begriff Enrico. »Sie sind wegen meiner Großtante hier, Signor Pisano?«
    »Ja, sie ist in der Nacht verstorben.«
    Widerstreitende Gefühle machten sich in Enrico breit. Zum einen war da die unendliche Erleichterung darüber, dass er sich getäuscht hatte: Der alte Mann hatte ihm nicht wegen Elena kondoliert. Aber auch der Tod von Rosalia Baldanello ließ Enrico nicht unberührt. Er hatte die alte Dame nur ein einziges Mal gesehen, und man konnte die Begegnung wohl kaum als erfreulich bezeichnen. Dennoch war sie seine Verwandte gewesen, die vielleicht letzte Verbindung zu seiner Familie, seiner Herkunft – zu seinem Vater. Die Trauer, die ihn überkam, galt vielleicht weniger der Toten als der verpassten Chance, den Namen seines Vaters herauszufinden. Enrico hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel von seinem Schmerz rein egoistisch war. Er wusste nur eins: Diesen Tag hätte er am liebsten aus dem Kalender gestrichen.
    Er sah den Commissario und dann den Mann aus Borgo San Pietro an. »Ist es unsere Schuld? Hat unser Besuch meine Großtante zu sehr aufgewühlt? Sie war gestern, als wir bei ihr waren, sehr erregt.«
    Pisano machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Signor Schreiber!

    Rosalias Uhr war abgelaufen. Das ist normal, wenn wir alt werden. Aber sie hat in der Stunde ihres Todes an Sie gedacht und mich beauftragt, Ihnen das zu übergeben.«
    Er beugte sich ins Innere des Streifenwagens und brachte einen Schuhkarton zum Vorschein, der mit faserigen Bändern umwickelt war. Pisano überreichte Enrico den Karton.
    »Was ist da drin?«, fragte Enrico.
    »Das weiß ich nicht. Rosalia hat mir nur das Versprechen abgenommen, Ihnen den Karton zu überreichen. Es schien ihr sehr wichtig zu sein, und sie war bei klarem Verstand. Ich bin mit dem nächsten Wagen, der aus Borgo San Pietro nach Pescia fuhr, hergekommen und habe mich bei dem Commissario nach Ihnen erkundigt.«
    Massi ergriff das Wort: »Im Hotel teilte man mir mit, Sie seien nicht auf Ihrem Zimmer und vermutlich weggefahren. Ich dachte mir schon, dass Sie ins Hospital sind, aber wir kamen zu spät. Dr. Addessi sagte mir, dass es der Signorina aus Rom nicht gut geht.«
    »Sie wird sterben, wahrscheinlich noch heute«, sagte Enrico mit belegter Stimme. »Die Kunst der Ärzte ist am Ende.
    Niemand kann Elena mehr helfen. Es sei denn …« Als sein Blick auf Ezzo Pisano fiel, kam ihm ein Gedanke, der neue Hoffnung in sein Herz pflanzte. »Es sei denn, der alte Mann aus den Bergen – Angelo …«
    »Der Alte, der angeblich Signorina Vidas Blutung gestillt hat?«, erkundigte sich Massi.
    »Ich weiß, es hört sich verrückt an. Aber ich wüsste niemanden sonst, der Elena noch helfen könnte. Er hat es schon einmal getan.«
    Enrico wandte sich an Pisano. »Wissen Sie, wo ich diesen Angelo finden kann?«

    Pisano wirkte erschrocken. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Signore.«
    »Sie lügen«, fuhr Massi den alten Mann an. »Ich wäre nicht stellvertretender Polizeichef von Pescia, wenn ich einen Lügner nicht auf hundert Meter gegen den Wind erkennen würde. Sie haben Angst, Signor Pisano. Wovor?«
    Pisano schlug die Augen nieder, um dem bohrenden Blick des Commissario auszuweichen. »Ich … möchte nicht darüber sprechen.«
    »Aber ich!«, sagte Massi. »Lebt dieser Angelo in Borgo San Pietro? Verfügt er wirklich über heilende Kräfte? Falls ja, sollten Sie es uns sagen! Ein Leben hängt davon ab. Genügt es nicht, dass sich der Tod Rosalia Baldanello geholt hat? Soll auch noch diese junge Frau dran glauben?«
    Pisano rang mit sich selbst und wirkte, als wollten zwei widerstreitende Seelen in seiner Brust ihn zerreißen.

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