Engelsfluch
Commissario, nachdem er in letzter Sekunde an einem Matschloch vorbeigeschlittert war.
»Man muss schon ein ausgesprochener Einsiedler sein, um sich hier wohl zu fühlen.«
»Angelo ist ein Einsiedler«, kam es von Pisano. »Und er lebt nicht in einem Haus. Jedenfalls nicht in so einem, wie Sie und ich es gewohnt sind.«
Enrico fielen Mauerreste auf, die links von ihm hinter einem Dornbusch aufragten. Bald sah er ein ganzes Gebäude, eine jener runden Steinhütten, wie sie ihm auf seiner Flucht vor zwei Tagen bereits untergekommen waren. Gräber der Etrusker, wie jener geheimnisvolle Angelo gesagt hatte. Das Unterholz wurde lichter, und bald erhoben sich mehrere solcher Steingräber links und rechts von ihnen, teils derart von Grün überwuchert, als wären sie eine Symbiose mit der Natur eingegangen.
»Sind das alles Gräber?«, fragte Enrico.
»Hier gibt es noch viel mehr davon«, antwortete Pisano.
»Borgo San Pietro steht auf den Ruinen einer Etruskerstadt. Und hier in diesen Wäldern haben die Etrusker ihre Toten bestattet.«
Er blieb zwischen einigen der teilweise sehr großen Graberhebungen stehen und blickte sich suchend um. Zum ersten Mal, seit sie den Wald unter Pisanos Führung betreten hatten, zeigte er ein Zeichen von Unsicherheit.
»Hier irgendwo muss es sein«, murmelte er und drehte sich im Kreis. »Ah ja, dort, das ist die richtige Richtung!«
Sie folgten ihm weiter, bis er vor dem Eingang zu einer der Steinhütten stehen blieb. Es war ein großes Grab von mindestens fünfzehn Metern Durchmesser. Eine Treppe, aus der Wind und Wetter schon beträchtliche Stücke herausgebrochen hatten, führte in die Tiefe, wo der unverschlossene Eingang lag.
Von oben sah er aus wie ein schwarzes Loch. Was sich dahinter verbarg, war nicht zu erkennen. Pisano stieg vorsichtig die Treppe hinunter, gefolgt von Enrico und Massi. »Reichlich düster hier unten«, bemerkte Enrico, als sie vor dem Eingang standen.
»Nicht mehr lange.« Massi zog eine kleine Stabtaschenlampe aus einer Tasche seiner Uniformjacke und knipste sie an. Enrico nickte ihm anerkennend zu. »Sie sind anscheinend auf alles vorbereitet, Commissario.«
»Besser so …«, antwortete der Polizist und öffnete den Knopf seiner Pistolentasche, um im Notfall leichter an seine Waffe zu kommen.
Langsam gingen sie durch die Finsternis, die nur vom dünnen Strahl aus Massis Taschenlampe erhellt wurde. Der Gang war eng, und zu beiden Seiten taten sich türartige Durchbrüche auf.
Vor jedem blieb Massi stehen und leuchtete den dahinter liegenden Raum mit seiner Lampe aus. Es gab tatsächlich richtige Zimmer hier unten in dem Grab, mit aus Stein gehauenen Betten oder Tischen, ganz so, als sollten die Toten ihr gewohntes Leben weiterführen. Am eindrucksvollsten fand Enrico die Wandmalereien, die in erstaunlich kräftigen Farben erhalten waren. Szenen aus dem Alltagsleben sollten den Toten offenbar verdeutlichen, dass sie auch im Jenseits nicht von ihren Gewohnheiten lassen mussten. Auffallend waren die geflügelten Männer, die auf mehreren Bildern zu sehen waren und an christliche Engel erinnerten. Als Enrico den Commissario darauf ansprach, sagte der: »Ich muss gestehen, dass ich mich in der etruskischen Mythologie nicht sonderlich gut auskenne. Aber mit dem christlichen Glauben hatten sie, soweit ich mich erinnere, nichts am Hut. Auf jeden Fall, da stimme ich Ihnen zu, sehen diese Flügelmenschen sehr interessant aus.«
»Fällt die Erkundung alter Kulturgüter auch in die Zuständigkeit der Polizei?«
»Nur dann, wenn Grabräuber am Werk sind. Eigentlich bin ich hergekommen, um diesen ominösen Angelo zu treffen.«
»Er wird kaum der Mörder Ihres Schwagers sein.«
»Das nicht. Aber vielleicht kann er ein wenig Licht in die Sache bringen. Die Leute in Borgo San Pietro sind nicht sehr gesprächig, nicht einmal meine Schwester.« Massi lachte trocken. »Ich habe es schon als Kind gehasst, wenn meine Schwester vor mir Geheimnisse hatte.«
Enrico wollte noch einmal auf die Engelsfiguren zu sprechen kommen, die ihn aus gutem Grund beeindruckten. Mehr noch, in gewisser Weise flößten sie ihm Angst ein. Hier unten in dem großen Grab fühlte er sich wie in dem unterirdischen Labyrinth aus seinem Alptraum. Aber als er sich zu Massi umwandte, fiel ihm auf, dass ihr Führer verschwunden war.
»Wo steckt Pisano?«, fragte er deshalb nur. Massi tastete den Gang mit dem Lichtstrahl seiner Lampe ab und stieß einen leisen Fluch aus, als Pisano
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