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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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ausgesprochen hatte? Dann hatte Enrico erst recht Grund, erschüttert zu sein. War er ein Satan? Unwillkürlich kam ihm der Geflügelte aus seinen Träumen in den Sinn, dessen anfangs engelsgleiche Erscheinung sich mit erschreckender Regelmäßigkeit in die eines Teufels verwandelte, wobei aus den gefiederten Flügeln fledermausartige Schwingen wurden. Und jedes Mal erfasste ihn das Grauen, wenn er in die Teufelsfratze blickte, die ein Zerrbild menschlicher Züge war. Denn in dem, was darin noch an einen Menschen erinnerte, erkannte er sich selbst.
    Das Grübeln brachte ihn nicht weiter, wie er aus reichlicher Erfahrung wusste. Mit einer ruckartigen Bewegung schnitt er die Bänder durch, und ohne jede Andacht nahm er den Deckel von dem Karton. Er hatte sich entschieden, und jetzt wollte er wissen, was Rosalia Baldanellos Vermächtnis an ihn enthielt Enrico hatte mit persönlichen Aufzeichnungen gerechnet, mit alten Fotos, vielleicht mit einem Tagebuch ähnlich dem von Fabius Lorenz Schreiber, aber auf den ersten Blick bestand sein kleines Erbe aus nichts anderem als Zeitungsausschnitten. Ein ganzer Karton, voll gepfropft mit kleinen und großen Zeitungsartikeln, alle fein säuberlich ausgeschnitten, ohne schiefe oder zerfasernde Ränder. Hier hatte jemand die Schere geführt, für den Ordnung und Genauigkeit eine große Rolle spielten, wie es zu einer Frau aus der Generation seiner Großtante passte.
    Der oberste Zeitungsartikel bestand aus mehreren Spalten und stammte aus einer der großen römischen Tageszeitungen, dem »Messaggero di Roma«. Er war am siebten Mai dieses Jahres erschienen und trug die fette Überschrift:
    »Wunderheilung im Vatikan«. Die Unterzeile lautete: »Ist der neue Papst ein Heiliger oder ein Scharlatan?« Als er die ersten Zeilen des Artikels las, erinnerte er sich an den Vorfall, von dem die Kunde vor ein paar Monaten um die Welt gegangen war.
    Enrico hatte in einem Fernsehbericht quasi miterlebt, wie der neu gewählte Papst Custos während einer Audienz einer an den Rollstuhl gefesselten Frau wieder zum Gehen verhalf. Die Medien hatten sich damals mit Meldungen überstürzt, die sich zum Teil heftig widersprachen. Die einen behaupteten, die auf so wundersame Weise Geheilte sei vom Hals abwärts gelähmt gewesen, andere sprachen von einem plumpen Trick, von purem Hokuspokus. Jedenfalls war dieser Vorfall der Auftakt zu jenen aufregenden Ereignissen im Zusammenhang mit dem Papst und dem Vatikan gewesen, die in einem Attentat auf Custos und einem Machtkampf im Vatikan kulminierten. Obwohl an der Kirche nicht sonderlich interessiert, hatte Enrico die Vorgänge damals verfolgt – wer Zeitung las, fernsah oder Radio hörte, kam nicht darum herum.
    Er kramte weiter in dem Karton und entdeckte eine Vielzahl von Artikeln, Kommentaren und Meldungen, die sich mit den tatsächlichen oder angeblichen Wunderkräften des Papstes beschäftigten. Enrico konnte nicht sagen, was ihn mehr verwunderte: dass seine Großtante ein so reges Interesse an dem Papst und seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten zeigte oder dass sie anscheinend sämtliche größeren Zeitungen Italiens, die im kleinen Borgo San Pietro gewiss nicht erhältlich waren, nach diesen Beiträgen durchforstet hatte. Einige wenige Zeitungsausschnitte beschäftigten sich mit der Kirchenspaltung und dem Gegenpapst Lucius, ohne dass Enrico einen Zusammenhang mit den Berichten über Custos’ so genannte Wunderkräfte entdecken konnte. Jedenfalls hatte Rosalia Baldanello ihr großes Interesse an der Kirche und den Päpsten bis zu ihrem Tod bewahrt.
    Enrico ging den Inhalt des Kartons dreimal durch, ohne etwas Persönliches zu finden. Kein Foto, keine Aufzeichnungen, nicht einmal eine kurze Notiz, warum die Verstorbene ihm ihre Ausschnittsammlung vermacht hatte. Das alles war sehr mysteriös, und Enrico hätte es als Spleen der alten Frau abgetan, wäre nicht sein Erlebnis mit Angelo gewesen.
    Übereinstimmungen zwischen den Kräften des Einsiedlers und denen des Papstes waren unübersehbar. Nach allem, was Enrico heute im Hospital erlebt hatte, war er geneigt, die Heilung der gelähmten Frau für bare Münze zu nehmen. Wenn aus dem Inhalt des Schuhkartons auch nicht hervorging, weshalb seine Großtante ihm die Berichte vermacht hatte, es gab doch einen Hinweis: Angelo hatte zu ihm gesagt, auch er verfüge über diese Kräfte. Und da waren die roten Male an seinen Händen. Hatte Rosalia Baldanello von seinen angeblichen Kräften gewusst?
    Und wenn ja,

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