Engelsfluch
vollen Bewusstsein dessen, was er getan hat.«
»Ihr Rechtsverdreher!«, murrte Massi mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich habe keine Ahnung, ob der juristische Tatbestand einer mittelbaren Täterschaft in diesem Fall gegeben ist, und nach Umilianis Tod werden wir es vielleicht nie erfahren. Ich spreche vom tatsächlichen Ablauf.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Pfarrer von ganz allein und aus heiterem Himmel auf die Idee gekommen ist, Benedetto zu erschlagen.«
»Aber wenn Sie Recht haben, wer ist der Hintermann, der Verantwortliche für den Tod Ihres Schwagers?«
»Das, würde Sherlock Holmes sagen, ist ein Problem, das mehr als die Länge einer Pfeife erfordert.« Der Commissario drückte den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. »Oder mehr als eine Packung Sargnägel.«
Er erkundigte sich nach Elena, und Enrico berichtete ihm von dem seltsamen Vorgang, für den er noch immer keinen passenderen Begriff hatte als Wunderheilung. Auch Massi gegenüber erwähnte er seine Vision von dem Geflügelten nicht.
Das hätte zu vieler Erklärungen bedurft und vor allem erfordert, dass Enrico sich neuerlich mit seinem Alptraum auseinander setzte. Und dazu verspürte er nicht die geringste Lust.
»Ein seltsamer Vogel, dieser Angelo«, meinte der Commissario. »Ich werde mich in Borgo San Pietro mal ein wenig nach ihm umhören. Allerdings befürchte ich, dass die Dorfbewohner nicht sehr gesprächig sein werden.«
»Vielleicht verrät Ihnen Ihre Schwester doch noch etwas mehr.«
Massi setzte eine gequälte Miene auf. »Darauf würde ich nicht bauen. Außerdem weiß sie vielleicht wirklich nicht viel über den Einsiedler. Schließlich ist sie nicht in Borgo San Pietro geboren, sondern nur eine Zugereiste. Die Menschen in den Bergen machen da feine Unterschiede.« Er trank sein Bier aus und fragte: »Haben Sie schon in den Karton gesehen, den Signor Pisano Ihnen gebracht hat?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen.«
»Falls er irgendetwas enthält, das uns in der Mordsache weiterhelfen könnte, lassen Sie es mich wissen, ja?«
»Selbstverständlich, Commissario.«
Enrico fuhr zum Hotel »San Lorenzo« zurück, zog sich aus, sobald er sein Zimmer betreten hatte, und stellte sich unter die Dusche. Mit abwechselnden warmen und kalten Schauern spornte er seine Lebensgeister an. Er schloss die Augen und gab sich der Vorstellung hin, eins zu werden mit dem heißkalten Nass. Es tat gut, unter dem prickelnden Wasserstrom zu stehen und alle Sorgen, alle quälenden Fragen zu vergessen, und am liebsten hätte er die Geborgenheit der Dusche gar nicht mehr verlassen. Aber irgendwann kam nur noch eiskaltes Wasser aus dem Duschkopf, und das holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Erst als er sich abtrocknete, dachte er daran, auch an seinen Füßen nach den roten Flecken zu suchen. Als er keine entdecken konnte, fühlte er eine gewisse Erleichterung. Er betrachtete seine Hände und hatte den Eindruck, dass die Rötung etwas nachgelassen hatte. Er hoffte, dass er sich das nicht nur einbildete, denn er hatte keine Lust, für den Rest seiner Tage als Stigmatisierter herumzulaufen.
Nachdem er in Hose und T-Shirt geschlüpft war, griff er nach dem Schuhkarton und setzte sich damit aufs Bett. Die Schnüre, die das schwere Päckchen zusammenhielten, mochten schon zerfasern, aber sie waren erstaunlich fest. Jeder Versuch, sie zu zerreißen, scheiterte. Er ging zur Garderobe und zog sein Taschenmesser aus der Allwetterjacke. Doch als die scharfe Klinge die Schnüre berührte, zögerte er und fragte sich, ob er wirklich wissen wollte, was sich in dem angegrauten Karton befand. Vielleicht hatte es seinen guten Grund, dass seine Mutter ihm verheimlicht hatte, wer sein Vater war.
Er dachte an die Worte, die Rosalia Baldanello voller Panik ausgestoßen hatte: Geh auch du weg! Du bist der Sünde verfallen wie dein Vater, das sehe ich dir an. Du hast dieselben Augen, denselben Blick. Dein Vater hat sich an Gott versündigt und die Strafe des Herrn über uns gebracht. Hat er dich zu seinem Vollstrecker ernannt? Und dann hatte sie unter Aufbietung aller ihr noch verbliebenen Kräfte Enrico angeschrien: Geh fort! Verlass mein Haus, Satan, und kehr nie mehr zurück! Wenn man das als Fieberphantasien einer alten, todkranken Frau abtat, war es traurig und erschütternd genug.
Aber was war, wenn in diesen Worten Wahrheit lag, wenn Rosalia Baldanello sie im vollen Bewusstsein dessen, was sie sagte,
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