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Engelsfluch

Engelsfluch

Titel: Engelsfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Überheblichkeit gegenüber den Menschen da draußen. Er wusste, dass er ein Suchender war, jemand, dem nur winzige Teile eines gigantischen Puzzles unter die Augen gekommen waren. Er hätte sich selbst noch nicht einmal als einen Einäugigen unter den Blinden bezeichnet. Aber was war er dann? Er blickte auf seine Hände mit den roten Flecken und war ratlos. Er fühlte sich als Spielball von Mächten, die er nicht kannte, nicht durchschaute und schon gar nicht beeinflussen konnte. Ein wenig verloren kam er sich vor, wie in einem winzigen Rettungsboot auf hoher See und kein Land in Sicht. Lag das nur an den mysteriösen Ereignissen, mit denen er in den letzten Tagen konfrontiert worden war? Wenn er ehrlich zu sich sein wollte, musste er das verneinen. Sein Leben war auch ohne das alles an einem Punkt angekommen, wo er sich entscheiden musste. Bisher hatte er sich auf eingefahrenen Bahnen bewegt, durchaus erfolgreich. Zwei Prädikatsexamen in Jura konnte nicht jeder vorweisen, und er war sicher, dass er als Jurist jederzeit eine neue Stelle finden würde, eine gute Stelle.
    Aber er wusste nicht, ob er das überhaupt wollte.
    Als er zu Elena gesagt hatte, dass die Juristerei nicht seine Lebenserfüllung sei, war das die Wahrheit gewesen. Er hatte Jura studiert, weil Lothar Schreiber Rechtsanwalt gewesen war.
    Irgendwie hatte es von vornherein festgestanden, dass Enrico eines Tages die Kanzlei seines Vaters übernehmen würde. Aber dann war Lothar Schreiber erkrankt und gestorben. Die Kanzlei musste verkauft werden, um die teure Behandlung zu bezahlen, die letztlich nicht geholfen hatte. Viele andere hätten Enrico um den Job beneidet, den er nach dem zweiten Staatsexamen in der Kanzlei Kranz & Partner angenommen hatte. Aber schon bald begannen ihn die Streitereien der Leute mehr zu nerven als zu interessieren, und als die Kanzlei sich wegen der krummen Geschäfte des Seniors in Wohlgefallen auflöste, war Enrico wohl derjenige unter allen Angestellten gewesen, der das am wenigsten – wenn überhaupt – bedauerte. Er war geradezu dankbar für die Chance, sein Leben in aller Ruhe von Grund auf zu überdenken. Noch war vielleicht Zeit, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen, nicht nur nach einer vorgefertigten Schablone zu leben, sondern etwas zu tun, was ihn herausforderte und ihm das Gefühl gab, sein Leben nicht mit etwas Bedeutungslosem zu verschwenden. In diese Zeit waren die Erkrankung und der Tod seiner Mutter gefallen. Fast so, als hätte eine höhere Macht beschlossen, ihn von allem loszulösen, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Als er den dringenden Wunsch verspürte, in Norditalien den Wurzeln seiner Herkunft nachzuspüren, hatte er nicht geahnt, was ihn hier erwartete. Jetzt, nachdem er hier war, fragte er sich, ob er nicht abermals einem vorgezeichneten Weg gefolgt war. Eine unbekannte Kraft schien ihn diesmal zu leiten, deren Ziele er ebenso wenig kannte wie ihre Natur. War sie gut oder böse? Er dachte an die Gestalt aus seinem Traum, die mal ein hell strahlender Engel und dann wieder ein Furcht einflößender Teufel war. Hatte der Geflügelte ihn hergelockt? Enrico schüttelte sich, als er wie aus weiter Ferne die Traumstimme vernahm, die ihn verlocken und ihm zugleich befehlen wollte.
    »Frieren Sie, Signore? Soll ich die Heizung aufdrehen?«
    Neben ihm stand eine füllige Frau und servierte die Pizza.
    Der Geruch von warmem Hefeteig, Thunfisch und Zwiebeln stieg ihm in die Nase.
    »Nicht nötig, danke«, sagte er und merkte, dass er eine trockene Kehle hatte. »Könnten Sie mir noch eine Cola bringen, eine große?«
    Er aß schnell, aber lustlos, obwohl die Pizza nicht schlecht war. Sein Blick wanderte wieder über die Piazza mit den weiß und gelb getünchten Palazzi. Blumengeschmückte Balkone in den oberen Stockwerken und Markisen über den Geschäften im Erdgeschoss trugen zu der heimeligen Atmosphäre bei, die das Zentrum von Pescia ausstrahlte. An dem Ende des Platzes, auf das Enrico schaute, erhob sich die Kirche Madonna di Pie di Piazza. In ihrer Nähe stand ein Palazzo ganz ohne Markisen und mit nur einem Balkon im ersten Stock, den kein einziger Blumenkasten schmückte. Ansonsten sah das sandfarbene Gebäude mit den grünen Fensterläden wie die anderen Wohnhäuser aus. Das Schild neben der breiten Eingangstür konnte Enrico nicht lesen, aber die vor dem Haus geparkten Polizeifahrzeuge verrieten, dass es sich um das örtliche Polizeihauptquartier handelte. Ein beleibter Mann

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