Engelsfluch
über uns eine vertraute Stimme: »Darf ich vielleicht behilflich sein?«
Gleichzeitig fiel das flackernde Licht einer Fackel auf uns.
Ich blickte nach oben und sah Riccardo, der sich über das Loch beugte.
»Was machst du hier?«, fragte ich ungläubig.
»Hören Sie mal, Signore! Ein Mann von Ehre lässt seine Schwester doch nicht allein mit einem Fremden, zumal in der Nacht!«
»Dann ist es ja gut für uns, dass du ein Mann von Ehre bist, Baldanello«, sagte ich voller Sarkasmus.
»Sie sollten mich nicht so verspotten, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe. Sind Sie oder Maria verletzt?«
»Bei mir ist es nichts Schlimmes«, antwortete ich und sah Maria an.
»Bei mir auch nicht«, sagte sie. »Der Schreck war schlimmer als der Sturz.«
»Bene.« Riccardo atmete auf. »Dann haltet ein paar Minuten hier aus, ich hole Hilfe. Aber benehmt euch anständig!«
Keine fünf Minuten später kehrte er mit der versprochenen Unterstützung in Gestalt von Hauptmann Lenoir und mehreren Soldaten zurück. Die Männer hatten Laternen und ein Seil bei sich, mit dessen Hilfe Riccardo und der Hauptmann zu uns hinunterstiegen. Im Schein von Riccardos Laterne sahen wir, dass dies nicht ein einfaches Loch im Erdreich war, sondern der Teil eines unterirdischen Ganges. Die Wände waren aus Stein gemauert und in bunten Farben bemalt. Bei genauerem Hinsehen erkannten wir auf den Bildern Männer in antiker Kleidung, in Togen und Tuniken. Es waren Jagdszenen.
Berittene Jäger, von Hunden begleitet, verfolgten einen flüchtenden Bären. Auf einem anderen Bild stand ein einsamer Jäger, bewaffnet mit einem Speer und einer Axt, einem mächtigen Eber gegenüber. Andächtig blickte ich die Bilder an und vergaß den Schmerz in meinem linken Arm vollkommen.
»Was sind das für Darstellungen?«, fragte Hauptmann Lenoir.
»Sie sind sehr alt«, erwiderte ich. »Und es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht etruskischen Ursprungs sind.« Ich blickte den Gang entlang, der in Richtung des Waldes verlief.
»Mon capitaine, wir haben das Heiligtum der Etrusker gefunden!«
11
Rom, Sonnabend, 26. September
Oberhalb der Wolken hatte das strahlende Licht der Mittagssonne die Maschine der Alitalia überflutet, unten auf dem Boden aber sah es grau und trüb aus. Ein Wetter, das zu Enricos Stimmung passte, die noch bedrückter wurde, je näher er seinem Ziel und der Begegnung mit Alexander Rosin kam.
Sollte er diesen ehemaligen Schweizergardisten als seinen Rivalen bezeichnen? Wohl kaum, denn das hätte vorausgesetzt, dass Enrico sich Chancen bei Elena ausrechnete. Nach allem, was sie ihm gestern Abend gesagt hatte, sah er aber nicht die geringste Chance, sie für sich zu gewinnen. Nachdem er endlich seine Reisetasche, die als letztes Gepäckstück über das Laufband kam, an sich genommen hatte, verließ er die Ankunftshalle des weitläufigen Flughafens Leonardo da Vinci, der dreißig Kilometer südwestlich von Rom lag, und steuerte auf die Schlange der wartenden Taxis zu. Natürlich hätte er die Strecke von Pescia nach Rom bequem mit dem Auto zurücklegen können. Aber wenn schon der »Messaggero di Roma«, eine der bedeutendsten italienischen Tageszeitungen, seine Reise bezahlte, wollte er es so komfortabel wie möglich haben. Deshalb hatte er auch auf einem Platz in der Businessclass bestanden. Gestern Abend im Hotel und eben im Flugzeug hatte er sich das vierte und vorletzte Kapitel von Fabius Lorenz Schreibers Reisetagebuch vorgenommen. Im Taxi nach Rom dachte er über das Gelesene nach. Die Gegend rund um die Autobahn war nicht dazu angetan, seine Aufmerksamkeit zu fesseln ganz im Gegensatz zu dem alten Reisebericht. Er brannte schon darauf, sich das letzte Kapitel vorzunehmen. Enrico dachte daran, wie Fabius Lorenz Schreiber mit Maria Baldanellos unfreiwilliger Hilfe die alte Etruskerstadt entdeckt hatte. Die Totenstadt, in der Angelo lebte, kam ihm in den Sinn. War es derselbe Ort? Wohl kaum, wenn Fabius Lorenz Schreiber kein ganz schlechter Archäologe gewesen war, sprach er doch ausdrücklich von einer Stadt und nicht von einer Nekropole. Vermutlich hing beides zusammen. Die Etrusker, die einst dort gesiedelt hatten, mussten in der Nähe ihrer Stadt die Toten bestattet haben. War es Zufall, dass Fabius Lorenz Schreiber von Elisa Bonaparte auf die Suche nach der Etruskerstadt geschickt worden war und dass Enrico zweihundert Jahre später auf die Gräber des alten Volkes stieß?
Er mochte das nicht glauben, aber noch fehlten in dem
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