Engelsfluch
Größe, gleich einem finsteren Untier, das sich erhob, um uns zu verschlingen.
»Ein Eingang, hier ist ein Eingang!«
Der Ruf kam von unserer linken Flanke, wo ein Soldat heftig winkte. Lenoir, Riccardo und ich liefen zu dem Mann und sahen den schmalen Durchlass im Mauergewirr, kaum breit genug für einen Karren. Als unsere Kolonne durch diesen Eingang den Ort betrat, sagte Lenoir: »Mir gefällt das nicht. Dies hier sind ideale Gegebenheiten für einen Hinterhalt. Wir müssen wie die Gänse hintereinander gehen und können uns kaum wehren, wenn jemand aus den Schießscharten oder von den Dächern auf uns schießt. Man kann uns hier abknallen wie die Kaninchen.«
»Vermutlich ist das der Zweck dieser Einrichtung«, bemerkte ich. »Auch ein zahlenmäßig überlegener Gegner könnte sich hier nicht entfalten und von einer kleinen Schar von Verteidigern niedergehalten werden.«
Aber kein Schuss fiel, und wir erreichten unangefochten den Dorfplatz. Er war nicht übermäßig groß, wirkte nach der Enge der gewundenen Gassen auf uns aber geradezu erlösend. Lenoir richtete seine Männer so aus, dass sie den Platz nach allen Seiten sicherten.
»Und jetzt, Monsieur Schreiber?«, wandte er sich mit ratlosem Gesichtsausdruck an mich.
»Vielleicht sollten wir die Kirchenglocke läuten«, schlug ich nur halb im Scherz vor und zeigte dabei zu dem hohen Kirchturm, der die Dächer überragte. »Mag sein, dass sich die Bewohner von Borgo San Pietro dann endlich zeigen.«
Während ich sprach, entfernte sich Riccardo wie zufällig und schlenderte zu einem der schmalen Häuser. Ein unerwarteter, schneller Sprung, und er verschwand im Eingang, dessen Tür nur angelehnt gewesen war. Für einen Augenblick dachte ich, er wolle sich auf diese Weise absetzen, aber schon kehrte er zurück und hielt ein strampelndes, keuchendes Bündel unter dem rechten Arm. Es war ein Kind, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Die strubbeligen dunklen Haar hingen ihm ins Gesicht, sodass ich nicht zu erkennen vermochte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Auch die Kleidung, die aus einem groben Kittel bestand, bot keinen weiteren Aufschluss.
»Ich sagte doch, hier gibt es Menschen«, knurrte Riccardo mit Genugtuung und musste sich dabei anstrengen, seinen sich heftig sträubenden Gefangenen im festen Griff zu behalten.
»Ein Kind«, murrte Lenoir zweifelnd. »Wo es ein Kind gibt, gibt es meistens auch Eltern«, versetzte Riccardo. »Und jetzt wäre es nett, wenn sich Ihre Männer um das kleine Biest kümmern könnten, Herr Hauptmann.«
Ein Wink Lenoirs, und zwei Soldaten packten das gefangene Kind und hielten es fest. Endlich konnte ich das verschmutzte Gesicht erkennen und feststellen, dass das abgerissene Bündel Mensch ein Junge war. Wir fragten ihn nach seinem Namen, nach seinen Eltern, nach den Bewohnern von Borgo San Pietro, danach, ob er Hunger oder Durst habe. Vergebens. Er schwieg so fest, als sei er stumm auf die Welt gekommen. Ein grobknochiger Sergeant erbot sich, den Jungen mit einer Tracht Prügel zum Reden zu bringen.
»Entweder er spricht, oder aber er wird nur noch verstockter«, wandte ich zweifelnd ein. »Verschreckte Kinder bringt man kaum durch die rohen Pranken eines Soldaten zum Reden. Dazu sind eher die zarten Hände einer Frau geeignet.
Wir sollten ihn zu Maria bringen.«
Der Vorschlag wurde von Riccardo und Lenoir mit Zustimmung aufgenommen, und unsere Kolonne setzte sich wieder in Bewegung, um das geheimnisvolle Bergdorf auf demselben verschlungenen Weg zu verlassen, auf dem wir es betreten hatten. Kaum hatten wir das Ende des Dorfplatzes erreicht, da erscholl hinter uns eine aufgeregte Frauenstimme:
»Mein Sohn, lasst ihn hier, per amor di Dio! «
Eine Frau lief quer über den Platz auf uns zu und streckte die Arme aus. Die überraschten Soldaten, die den Jungen festhielten, konnten seinem unbändigen Aufbäumen nichts entgegensetzen, und schon lag das Kind in den Armen seiner Mutter. Hinter ihr tauchten weitere Menschen auf, Männer, Frauen und Kinder, in so großer Zahl, dass es mich erstaunte, wie gut sie sich vor uns verborgen hatten. Sahen die Kinder eher neugierig drein, so blickten uns die Erwachsenen teils ängstlich, teils feindselig an. Die meisten Männer hielten Waffen in den Händen, einfache Knüppel, Messer, Heugabeln und vereinzelt ein paar alte Musketen. Hauptmann Lenoir rief einen knappen Befehl, und seine Männer legten ihre Gewehre auf die Dorfbewohner an. Ich hatte keinen Zweifel, dass ein
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