Engelsfluch
Puzzle zu viele Stücke, um ein klares Bild zu gewinnen.
Während das Taxi sich über Autobahn und Schnellstraßen Rom näherte, beschlich Enrico das Gefühl, einen Fehler zu begehen. Sollte er die Klärung des Geheimnisses, das ihn umhüllte wie ein dichter Nebelschleier, nicht eher in dem kleinen Borgo San Pietro suchen als in Rom? Mit jedem Kilometer entfernte er sich von dem Ort, dem, wie ihm sein Gefühl sagte, sein Interesse eigentlich gelten sollte. Fast war er versucht, den Taxifahrer zur Umkehr aufzufordern und den nächsten Flug zurück nach Pisa zu nehmen. Aber dann dachte er an jenen Kardinal Salvati, den die Gegenkirche zu ihrem Papst gewählt hatte. Auch er stammte, wie Enricos Mutter, aus Borgo San Pietro. Ein Zufall mehr, oder gab es da eine Verbindung?
Jedenfalls war Elena damit beschäftigt, über den Gegenpapst zu recherchieren, und Rom mit dem Vatikan war das Zentrum der katholischen Kirche. Vielleicht lohnt der Umweg doch, dachte Enrico, lehnte sich im Sitzpolster zurück und versuchte, sich zu entspannen.
Er hatte Elena gefragt, weshalb Alexander Rosin nicht nach Pescia kommen könne. Sie hatte ihm etwas von wichtigen Ermittlungen über zwei Priestermorde erzählt, die sich in Rom und in den Albaner Bergen ereignet hatten. Nur kurze Zeit später war in der Toskana ein Priester zum Mörder und zum Selbstmörder geworden. Noch ein seltsamer Zufall mehr wenn es denn einer war. Vor Enrico wuchs die Silhouette Roms aus dem grauen Dunst, aber er schloss die Augen und erinnerte sich an einen Satz, den er bei Friedrich Hebbel gelesen hatte: »Der Zufall ist ein Rätsel, welches das Schicksal dem Menschen aufgibt.« Enrico war fest entschlossen, dieses Rätsel zu lösen.
Als er die Augen wieder aufschlug, fuhr das Taxi durch einen hässlichen, von genormten Wohnblöcken geprägten Vorort, dessen Tristesse kaum wetterbedingt war. Wenn Enrico früher an Rom gedacht hatte, hatte er andere Bilder vor Augen gehabt: den Petersplatz und die Engelsburg, das Kolosseum und den Trevi-Brunnen, Audrey Hepburn und Gregory Peck auf einem Motorroller. Er lächelte über seine eigene Vorstellung. Obwohl zu hundert Prozent italienisches Blut in seinen Adern floss, war er nie in Rom gewesen, kannte er die Stadt lediglich aus Filmen und von Kalenderblättern. Zu Beginn des dritten Jahrtausends, in einer rasend schnell zusammenwachsenden und aus den Fugen geratenden Welt, konnte er kaum erwarten, das Postkartenrom aus Touristenträumen vorzufinden.
Aber plötzlich änderte sich das Bild. Das Taxi fuhr durch Straßen, die von eindrucksvollen alten Palazzi gesäumt wurden, hin und wieder wie selbstverständlich unterbrochen von antiken Ruinen. Jetzt hatte Enrico das Gefühl, wirklich in Rom zu sein.
Der chaotische Autoverkehr tat ein Übriges, ihn davon zu überzeugen, dass er sich im Zentrum einer anderen Kultur befand. Während Enrico mehr als einmal den rechten Fuß auf ein imaginäres Bremspedal presste, verschaffte sich der Taxifahrer mit aggressivem Hupen und einem noch aggressiveren Fahrstil freie Bahn.
Das Haus in der Via Catalana, in dem Alexander Rosin wohnte, war schmal und von außen eher schmucklos. Die beiden Palazzi, die es rechts und links flankierten, schienen es fast zu erdrücken. Enrico zahlte dem Taxifahrer den recht stolzen Fahrpreis und ließ sich eine Quittung für den »Messaggero«
geben. Schon nach dem ersten Klingeln ertönte der Türsummer.
Seine Reisetasche in der Linken, trat Enrico in den Hausflur und suchte vergebens nach einem Lift. Wahrscheinlich war das Gebäude für einen solchen einfach zu schmal. Seufzend stieg er die enge Treppe hoch, und seine Füße fühlten sich auf einmal sehr schwer an. Das lag nicht an der Treppe, sondern an dem Gedanken, oben im dritten Stock Alexander Rosin zu begegnen.
Vor dessen Wohnungstür holte er noch einmal tief Luft, und er wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, da wurde die Tür geöffnet. Als Enrico den hoch gewachsenen Mann mit dem markanten Kinn, dem rotbraunen, leicht lockigen Haar und den ausdrucksstarken Augen sah, konnte er sich gut vorstellen, dass Elena sich in ihn verliebt hatte. Leider. Der andere lächelte und sagte auf Deutsch: »Willkommen in Rom, Herr Schreiber! Ich bin Alexander Rosin. Treten Sie ein! Ich mache uns erst mal einen Kaffee. Der wird Ihnen nach der langen Reise gut tun.«
Und sympathisch war er auch noch!
Enrico folgte Rosin in eine kleine, behagliche Küche, wo er seine Reisetasche abstellte. Rosin machte
Weitere Kostenlose Bücher