Engelsfluch
Kampf zu unseren Gunsten ausgehen würde. Der geballten Feuerkraft der Soldaten und ihrer Übung im Umgang mit dem Bajonett hatten die Menschen von Borgo San Pietro wohl kaum etwas entgegenzusetzen.
Ein Dorfbewohner mit üppigem, bereits leicht ergrautem Schnauzbart legte seine Muskete auf den Boden und trat langsam auf uns zu. Neben der Frau und dem Kind blieb er stehen und sagte: »Mein Name ist Giovanni Cavara. Als Bürgermeister des Ortes heiße ich Sie in Borgo San Pietro willkommen. Und ich danke Ihnen dafür, dass Sie meinem Sohn Romolo nichts getan haben.«
»Warum haben Sie sich vor uns versteckt?«, fragte der Hauptmann.
»Meine Leute hatten Angst vor Ihren Soldaten. Es sind fremde Uniformen. Sie dachten, wir haben Krieg.«
»Wir haben auch Krieg, gegen die Österreicher. Aber wir sind Franzosen. Sie wissen doch, dass die Fürstin Elisa, die Schwester von Kaiser Napoleon, jetzt über dieses Land herrscht?«
Cavara nickte. »Ich habe davon gehört. Befürchten Sie einen Angriff auf unser Dorf?«
»Das wohl kaum.« Lenoir lachte. »Wir sind aus einem anderen Grund hier. Wir suchen die Ruinen einer alten Etruskerstadt.«
Schlagartig verfinsterte sich das Gesicht des Bürgermeisters.
»So etwas gibt es hier nicht.«
Wen wir auch in Borgo San Pietro fragten, jeder gab uns dieselbe Antwort oder tat so, als würde er überhaupt nicht verstehen, was wir wollten. Hatte ich mich getäuscht und unseren Trupp irrtümlich in die Bergwildnis geführt? Mein Instinkt sagte mir, dass es nicht so war. Die Verschlossenheit der Dörfler erschien mir verdächtig und nährte in mir den Eindruck, dass sie uns etwas verschwiegen. Ich beriet mich mit Lenoir, und wir beschlossen, vor den Mauern des Ortes unser Lager aufzuschlagen. Zwar hätte es wohl genügend Unterkünfte im Ort gegeben, aber das abweisende Verhalten der Einheimischen ließ es uns sicherer erscheinen, draußen zu biwakieren. Als es dämmerte, teilte Lenoir die Nachtwachen ein, während über dem Lagerfeuer ein Wildschwein briet, das einer der Soldaten erlegt hatte. Während des Essens fiel mir auf, dass Maria bedrückt wirkte. Sie war noch schweigsamer als sonst und nahm kaum einen Bissen zu sich. Alle anderen aßen noch, da stellte Maria ihren Teller ab und stand auf. Auch ich stellte meinen Teller weg und folgte ihr in das Dämmerlicht zwischen den Zelten. Im Vorbeigehen fing ich einen Blick Riccardos auf, der von einem wissenden Lächeln begleitet wurde. Leise rief ich Marias Namen. Sie blieb stehen und wandte sich zu mir um.
»Was hast du?«, fragte ich. »Du hast kaum etwas gegessen.«
»Mir ist nicht ganz wohl.«
»Dich bedrückt etwas, nicht wahr?«
Sie blickte zu dem Lagerfeuer, um das die Soldaten saßen, sich von dem Wildschwein bedienten und lauthals derbe Witze zum Besten gaben. Ich verstand und schlug vor, das Lager zu verlassen. Noch war es hell genug, um den schmalen Weg zu erkennen, der zu einem Bach führte, aus dem unsere Truppe sich mit Wasser versorgte. Nicht weit entfernt hoben ein paar Pinien ihre breiten Kronen in den Abendhimmel, und hinter der losen Baumgruppe markierte dichtes Buschwerk den Übergang zum Wald. Wir ließen uns auf zwei großen Steinen am Rand des Baches nieder, und ich fragte Maria noch einmal, was sie bedrücke.
»Es ist der Vogel«, sagte sie. »Etwas Schlimmes wird geschehen.«
»Der Vogel? Wovon sprichst du?«
Maria schaute mich voller Erstaunen an. »Signore, erinnern Sie sich nicht an den Bussard, der über uns kreiste?«
»Du meinst, als du über die Baumwurzeln gestürzt bist?«
»Ja.«
Ich erinnerte mich ungenau an Marias Worte von dem Unheilsvogel, der ein schlechtes Vorzeichen für unser Vorhaben sei. »Der Bussard hat dich erschreckt. Warum?«
»Ich habe diesen Vogel schon dreimal gesehen.«
»Den Bussard von heute Nachmittag?«, fragte ich ungläubig.
»Den Unheilsvogel. Zum ersten Mal kreiste er über meinem Heimatdorf, als ich noch ein kleines Kind war. Zwei Tage später starb mein Vater bei einem Gewitter. Der Blitz schlug in unser Haus. Als ich zwölf war und von einer Kräuterfrau Medizin für meine kranke Mutter holen sollte, bemerkte ich auf dem Heimweg wieder den Unheilsvogel, der über meinem Kopf kreiste und seine heiseren Schreie ausstieß. Ich lief so schnell ich konnte, aber ich kam zu spät, meine Mutter hatte ihre Augen für immer geschlossen. Von da an musste ich selbst für mich und meine kleine Schwester sorgen. Wir arbeiteten für einen entfernten Verwandten, einen
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