Engelsfuerst
unzertrennlich waren. Ihre Anwesenheit brachte ihn auf andere Gedanken und nahm ihm etwas von der Last, die Lucius’
Worte ihm aufgebürdet hatten. Aber auch Elena
schien eine Gefangene zu sein, und das beunruhigte
ihn. War es nicht genug, daß sein Vater und er Totus
Tuus in die Hände gefallen waren?
Lucius zeigte mit einladender Geste zu dem Tisch.
»Auch wenn es profan klingt, vielleicht sollten wir
wirklich etwas essen und den Kaffee trinken, solange
er heiß ist.« Er blickte seinen Sohn an. »Und wir sollten Signorina Vida endlich willkommen heißen, auch
wenn sie sich vermutlich nicht freiwillig hier aufhält.«
Der Bann war gelöst, Enrico und Elena fielen einander um den Hals. Lucius und Elena begrüßten einander ein wenig förmlicher.
Schließlich setzten sie sich, tranken den starken,
heißen Kaffee und aßen Zwieback mit Wurst und
Marmelade. Dabei entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, in deren Verlauf sie einander berichteten, was
ihnen widerfahren war.
»Laura Monicini eine Verräterin«, sagte Enrico fassungslos, als Elena geendet hatte. »Wären die Umstände nicht so, wie sie sind, ich würde das nicht glauben.«
»Bis gestern hätte auch ich jeden, der mir das erzählt hätte, für verrückt erklärt«, sagte Elena. »Ich habe Laura für meine Freundin gehalten – meine beste
Freundin.«
»So funktioniert das System von Totus Tuus«, sagte
Lucius. »Ein vermeintlicher Freund gewinnt das Vertrauen eines Menschen, spioniert ihn aus und dringt
bis zu seinen geheimsten Wünschen und Ängsten vor.
Dieses Wissen ist in den Händen einer fanatischen
Sekte eine gefährliche Waffe. Wer einen anderen Menschen so gut kennt wie sein eigenes Ich, kann ihn mit
Leichtigkeit manipulieren, und schon hat Totus Tuus
ein neues Mitglied gewonnen. Ein System, das durch
seinen Schneeballeffekt noch wirkungsvoller ist.«
Elena sah Papst Lucius an und nickte. »Ich kenne
das System aus eigener Erfahrung. Ich habe den Orden verlassen und werde ganz sicher nicht in seinen
Schoß zurückkehren. Wäre Laura nicht bewaffnet
gewesen, ich wäre nicht mit ihr gegangen. Aber ich
durfte nichts riskieren, meinem Kind zuliebe.« Staunend vernahm Enrico die Neuigkeit.
»Vielleicht haben sie mit deiner Entführung einen
Fehler gemacht, der ihre Pläne durchkreuzen wird«,
sagte er.
»Da war wohl eher die Entführung des Heiligen
Vaters ein Fehler«, erwiderte Elena mit Blick auf
Papst Lucius. »Sein Verschwinden – nicht meins –
wird eine gigantische Suchaktion auslösen.«
»Aber deine Entführung könnte der Polizei neue,
entscheidende Hinweise liefern. Vielleicht läßt sich
anhand von Lauras Fahrzeug der Weg hierher rekonstruieren.«
»Das glaube ich kaum«, sagte Elena und erzählte
von den Vorsichtsmaßnahmen, die Laura getroffen
hatte. »Sie hat mir auch, noch in Rom, mein Handy
abgenommen und es ausgeschaltet.«
»Unsere Handys sind ebenfalls weg«, erklärte Enrico. »Also keine Chance, daß wir hier geortet werden.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein, drei
Menschen, von denen einer Papst Lucius ist, können
nicht einfach spurlos verschwinden! Daß du weg bist,
wird jedenfalls schnell auffallen, Elena. Alexander
wird dich vermissen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Wieso?« fragte Enrico und erfuhr, daß Elena und
Alexander sich getrennt hatten.
Früher hätte die Nachricht in ihm womöglich die
Hoffnung geweckt, Elena doch noch für sich zu gewinnen. Inzwischen war zu viel Zeit vergangen. Außerdem dachte er an das, was sein Vater gesagt hatte,
über das mögliche Ende ihres Wegs. Vielleicht war
den Söhnen Uriels tatsächlich kein normales Leben
bestimmt. Zumindest jetzt war daran nicht zu denken.
»Das mit Alexander tut mir leid«, sagte Enrico aufrichtig und wußte zugleich, daß seine Worte für Elena
weder Trost noch Hilfe sein konnten.
Eine gedrückte Stimmung legte sich über die drei,
und sie beendeten ihr Frühstück schweigend. Erst ein
fernes Geräusch, ähnlich dem Brummen eines großen
Insekts, riß sie aus der Lethargie. Es kam nicht aus
dem Zelt, und doch wurde es lauter, deutlicher. Enrico erkannte, daß es nicht organischen Ursprungs sein
konnte, dazu hörte es sich zu gleichförmig an, zu mechanisch.
»Ein Hubschrauber!« stieß er in plötzlicher Erregung hervor. »Das kann nur ein Hubschrauber sein.
Vielleicht suchen sie schon nach uns!«
40
San Gervasio
D
ie Sonne brach durch die Wolken und malte den
Schattenriß des Hubschraubers als
Weitere Kostenlose Bücher