Engelsfuerst
hinabzusteigen, bestand er darauf, das Verlies persönlich in Augenschein zu nehmen. Als sie unten standen, ließ der Hauptmann den Lichtkegel eines Handscheinwerfers langsam durch den Raum gleiten.
»Echt gruselig, finden Sie nicht?« kommentierte er
die Szenerie. »Wie aus einem Frankenstein-Film. Hier
würde ich nicht mal meine Schwiegermutter einsperren.«
Sie fanden eine Decke, Kleidungsstücke, Essens-
und Wachsreste. Der runde Kerker wirkte, als sei er
noch nicht lange verlassen.
Alexander hob ein verschmutztes Hemd hoch, das
durch den ungewöhnlichen dreieckigen Zuschnitt der
beiden Brusttaschen auffiel.
»Das Hemd kenne ich, es gehört Enrico!«
»Bist du sicher?« fragte Donati.
»Ja. Er hatte es an, als wir uns zum letzten Mal getroffen haben, das war vor etwa zweieinhalb Monaten.
Ich habe noch über seinen Geschmack gespottet.«
»Dann wissen wir jetzt, wer hier eingekerkert war:
der Lockvogel für Papst Lucius.«
Sie verließen den Keller und stiegen die gewundene
Treppe hinauf zu dem zweiten Raum, der die Aufmerksamkeit des Offiziers auf sich gezogen hatte. Er
lag unterhalb des Glockenstuhls, eine Art Kapelle,
sehr klein und mit einem entsprechend winzigen Altar
in der Mitte. Auffällig war ein Wandmosaik eines von
Flammen umzüngelten Engels. Oder war es eher ein
Dämon? Der strenge, geradezu vernichtende Blick der
geflügelten Gestalt legte diesen Gedanken nahe.
Donati hatte auf dem Altar etwas entdeckt: eine
Geißel mit mehreren Lederstreifen, die in kleinen
Knoten endeten. Die Knoten war blutrot.
»Was ist das?« fragte der Offizier.
»Das funktioniert so«, erklärte Donati und tat so,
als wolle er sich mit der Geißel auf den Rücken schlagen. »Man tut es, bis man blutet. Wie Sie an der Farbe
der Knoten erkennen können, Capitano. Übrigens
scheint die Geißel, wenn ich sie mir genauer ansehe,
noch vor kurzem benutzt worden zu sein.« Der Offizier starrte zweifelnd auf das ungewöhnliche Instrument. »Warum tut jemand so etwas?«
»Um für seine Sünden zu büßen und Gott zu Gefallen zu sein.«
»An so etwas findet Gott Gefallen?«
»Das wollen wir nicht hoffen«, sagte Donati und
legte die Geißel zurück auf den Altar. »Aber es gibt
verblendete Menschen, die das glauben. Und es gibt
rücksichtslose Menschen, die diesen Irrglauben ausnutzen.«
Alexander sah Donati an und wußte, daß sie beide
dasselbe dachten: Elena hatte recht gehabt mit ihrer
Vermutung – Totus Tuus war wieder aktiv!
41
Im Tempel der Ahnen
N
ach dem Frühstück erschienen Giuseppe und
zwei weitere Bewaffnete und forderten die Gefangenen auf, sie zu begleiten. Enrico, Lucius und
Elena traten hinaus ins Freie, falls man, dachte Enrico,
den Raum unter dem riesigen Tarnnetz so bezeichnen
konnte. Er blickte nach oben und lauschte vergeblich
nach dem Knattern des Hubschraubers, das ihnen für
kurze Zeit Hoffnung eingeflößt hatte. Das Tarnnetz
hatte die Suchmannschaft getäuscht, oder war es gar
kein Suchtrupp gewesen, sondern irgendeine Maschine, die zufällig über sie hinweggeflogen war?
»Eine gute Tarnung, nicht?« sagte Giuseppe. »Ihr
braucht übrigens nicht zu hoffen, daß wir mit Wärmebildkameras aufgespürt werden könnten. Das Netz
hat eine Spezialbeschichtung, die das verhindert. Der
General hat an alles gedacht.«
»Der General?« wiederholte Enrico.
Giuseppe zeigte auf eine kleine Gruppe, die vor der
Felswand stand, in ihrer Mitte Tommasio, der jetzt
statt seiner Kutte eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose trug. »Tommasio Lampada, der General unseres Ordens.«
Sie gingen auf die Gruppe zu, und Enrico sah, daß
der weiße Krebs aus dem Ordenswappen nicht nur auf
Tommasios Brust, sondern auch auf seinen Schultern
prangte. Neben ihm stand Laura Monicini, der er einmal in Rom auf einer Geburtstagsfeier von Elena begegnet war. Auch sie hatte die schwarze Totus-TuusUniform angelegt, nur trug sie statt der Hose einen
langen Rock. Sie und die beiden Männer neben ihr, offenbar Offiziere des Ordens, trugen, wie auch Giuseppe, jeweils auf der linken Schulter den weißen Krebs.
Ohne Umschweife wandte Tommasio sich an Enrico. »Hast du dich erholt? Fühlst du dich kräftiger?«
»Ja, vielen Dank für die Anteilnahme«, erwiderte
Enrico frostig.
Sein Ärger prallte an Tommasio ab. Der sagte ruhig:
»Sehr gut, denn vor uns liegt eine schwere Aufgabe.
Ich dachte, ich mache dich und deinen Vater ein wenig
mit der Örtlichkeit vertraut. Das wird euch helfen,
euch auf das Kommende einzustimmen.
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