Engelsfuerst
Engeln – oder
Dämonen? – in ein Flammenmeer verwandelt wird.
Ich habe die Schreie der Menschen gehört, die Todesangst in ihren Augen gesehen und die Gluthitze des
Feuers gespürt, das Menschen wie Tiere in Asche
verwandelte. Mehrmals bin ich aufgewacht, wohl, weil
ich diesen Traum nicht träumen wollte.«
Lucius sah ihn mitfühlend an. »Auch ich habe es
gespürt, aber sicher nicht so heftig wie du. Deine
Empfänglichkeit für das, was jenseits des Greifbaren
liegt, ist eine besondere Begabung.«
»Ich denke immer häufiger, daß sie eher ein Fluch
ist.«
»Ein Fluch ist sie nur, wenn du dich dagegen auflehnst, Enrico. Denn das hilft nichts, du bist, wie du
bist. Alle Engelssöhne müssen lernen, mit ihrem Anderssein und ihren Begabungen zu leben. Manche entscheiden sich dagegen, etwas Besonderes zu sein, und
führen ein normales Leben, soweit es ihnen möglich
ist. Ob sie damit glücklich werden, weiß ich nicht.
Aber uns, Enrico, den Söhnen Uriels, ist ein bestimmter Weg vorgezeichnet. An diesem Ort, den sie den
Tempel der Ahnen nennen, spüre ich es so deutlich
wie nie zuvor. Und es ist gut möglich, daß der Weg
bald endet.«
Den letzten Satz hatte Lucius nur zögernd und sehr
leise ausgesprochen. Er blickte seinem Sohn tief in die
Augen, als wolle er dessen Reaktion testen.
Enrico spürte Furcht in sich aufsteigen. Er hatte
sich in den vergangenen Tagen mehr als einmal in Lebensgefahr befunden, aber was sein Vater da andeutete, hatte etwas Unausweichliches. Zum ersten Mal
dachte Enrico wirklich über den eigenen Tod nach,
und zu seiner Furcht gesellte sich eine tiefe Trauer um
all das, was er im Leben nicht mehr würde tun können
und was er bisher, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus
Ignoranz, versäumt hatte. Eine Frau zu finden, mit
der er eine Familie gründen und seinem Dasein einen
Sinn geben konnte, der über die lächerlich kurze
Spanne eines Menschenlebens hinausging, das sollte
ihm nicht vergönnt sein? Lucius schien zu wissen, was
in seinem Sohn vorging. Er setzte sich auf dem schmalen Feldbett auf und legte Enrico eine Hand auf die
Schulter.
»Wir Engelssöhne sind Menschen, haben aber besondere Fähigkeiten und Aufgaben. Unsere Bestimmung ist eine andere als die der meisten Menschen.
Ich weiß nicht, was letztlich sein wird, und das ist
auch gut so. Der Herr wird uns leiten und uns Trost
spenden!«
Er sagte das mit einer Gewißheit, die Enrico etwas
von seiner Verzweiflung nahm. Und als Lucius ihn
einlud, mit ihm zu beten, nahm Enrico das sehr gern
an. Während er mit gefalteten Händen neben Lucius
auf dem Zeltboden kniete und dessen Worte nachsprach, fühlte er sich seinem Vater so nahe wie noch
nie zuvor.
Ihr Gebet dauerte noch an, als Schritte näher kamen
und die Zeltplane am Eingang beiseite geschoben
wurde. Im Zelt wurde es dadurch aber kaum heller,
denn das riesige Tarnnetz über dem Tal beschränkte
den Einfall von Tageslicht enorm.
Giuseppe trat ein, nun nicht mehr im Mönchsgewand, sondern in der dunklen Kluft, die alle hier zu
tragen schienen. Auch auf seiner Brust prangte das
Totus-Tuus-Wappen, und an seiner Hüfte hing eine
schwarzlederne Pistolentasche. Enrico fiel auf, daß der
weiße Krebs aus dem Wappen auch auf Giuseppes
linker Schulter saß. Den Kopfverband hatte Giuseppe
durch ein Pflaster ersetzt.
»Guten Morgen!« sagte er gutgelaunt. »Ich bringe
euch das Frühstück und einen weiteren Gast, der in
der Nacht eingetroffen ist. Ihr findet es hoffentlich
nicht unziemlich, euch das Zelt mit einer Frau zu teilen – unser Platz hier ist nun mal begrenzt.«
Nur beiläufig achtete Enrico auf Giuseppes Begleiter, die ein zusätzliches Feldbett, einen kleinen Tisch
und drei Klappstühle aufbauten und am Ende ein großes Tablett auf den Tisch stellten. Zu sehr nahm ihn
die junge Frau gefangen, der selbst die Übermüdung,
die man ihr deutlich ansah, nichts von ihrer Schönheit
rauben konnte. Elena Vida schien nicht minder überrascht, Enrico und seinen Vater hier anzutreffen. Für
eine kleine Weile starrten die drei einander nur
schweigend an.
»Vielleicht wird das Gespräch ja beim Frühstück
etwas anregender«, spöttelte Giuseppe, bevor er sich
mit seinen Männern zurückzog.
Widerstreitende Gefühle beherrschten Enrico. Er
freute sich, Elena wiederzusehen. Sie war eine gute
Freundin, und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er
gehofft, sie würde noch mehr sein. Aber dann hatte er
eingesehen, daß Alexander und sie
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