Engelsfuerst
gleich einer Druckwelle, alle Menschen in dem Felsendom zu Boden warf.
Enrico spürte die fremde Macht, und jetzt fürchtete
er sich. Fürchtete sich davor, den Kopf zu heben und
dorthin zu schauen, wo der Schlund war – und das,
was Jahrtausende hindurch in ihm geschlafen hatte.
56
In den umbrischen Bergen
D
a vorn muß es sein!« rief der Kopilot und zeigte, die Karte auf den Knien, ins Dunkel des felsigen Geländes, wo sich schemenhaft die Umrisse eines Berges in den Nachthimmel reckten.
Major Prioletta, der hinter ihm saß, spähte durch
ein Nachtfernglas nach draußen.
»Nichts zu sehen, aber das war auch nicht zu erwar
ten. Sie werden kaum ein Leuchtfeuer für uns anzünden, und wenn sie ihr Lager tatsächlich durch eine spezielle Plane getarnt haben, werden wir von hier oben
gar nichts sehen können, schon gar nicht bei Nacht.«
Der Kommandant des GIS-Einsatzkommandos sah
Donati an. »Landen können wir hier nicht, das Gelände ist zu unwegsam. Ich schlage vor, wir setzen einen Spähtrupp ab, der das Gebiet erkundet. Bei positiver Rückmeldung springt das gesamte Kommando
ab und greift an.«
Donati nickte und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie
haben jetzt den Befehl, Maggiore.«
Prioletta griff zum Funkgerät und erteilte Capitano
DelBene den Einsatzbefehl.
Erregung wallte in Alexander auf, als er sah, wie ein
Hubschrauber tiefer ging, bis er keine zwei Meter
mehr über dem Boden schwebte. Ein Carabiniere
sprang heraus, rollte sich geschickt über die Schulter
ab und suchte hinter dem nächsten größeren Felsen
Schutz, um seine Kameraden zu decken. Einer nach
dem anderen folgte, bis alle zwölf Mann von DelBenes Einheit abgesetzt waren und der Hubschrauber
wieder höherstieg.
Die Carabinieri, die in ihren Nomex-Overalls mit
den Kapuzen, Nachtsichtbrillen und ABC-Schutzmasken etwas von Gestalten aus einem Science-fictionFilm hatten, gingen in Zweierteams vor. Sie waren keine zwanzig Meter weit vorgedrungen, da durchstießen
Flammenzungen die Finsternis.
DelBenes Männer gingen in Deckung, aber einer
war nicht schnell genug. Die feindlichen Kugeln erwischten ihn, während er geduckt vorwärts lief, und
stoppten ihn mitten in der Bewegung. Er blieb stehen,
schwankte und stürzte seitlich zu Boden.
»Einsatz für alle!« brüllte Prioletta ins Funkmikrophon. »Angriff nach eigenem Ermessen!«
Die nächsten ein, zwei Minuten erlebte Alexander
als einziges Chaos, wenn es in Wahrheit auch ein organisierter und hundertmal erprobter Ablauf war. In
bereits vor dem Start festgelegter Reihenfolge gingen
die Hubschrauber tiefer, und die GIS-Männer sprangen auf dieselbe Weise ab wie DelBenes Team. Alexander und Donati warteten, bis alle anderen draußen
waren, um sie nicht zu behindern.
Dann trat Alexander an die offene Seitentür des
Helikopters und drehte sich zu Donati um. »Kommst
du mit, Stelvio?«
»Auf jeden Fall, auch wenn ich keine Ahnung habe,
wie ich das mit meinem Aluminiumbein anstellen
soll.«
Alexander grinste. »Aluminium ist leicht. Ich werde
dich einfach auffangen.«
Dann sprang er. Das Training, das er bei der
Schweizergarde absolviert hatte, zahlte sich auch jetzt
noch aus. Nahezu perfekt rollte er sich ab; die kleine
Prellung, die er sich an der linken Schulter zuzog, war
unerheblich.
Als er wieder auf den Beinen stand, kam ihm auch
schon Donati entgegen, für den die Sache ohne Alexanders Hilfe nicht so glimpflich abgelaufen wäre. Er
wäre womöglich auf einen spitzen Felsen gestürzt,
hätte Alexander ihn nicht abgefangen.
»Ich habe doch gesagt, daß ich dich auffange. Wir
sollten mit der Nummer im Zirkus auftreten.«
»Nach meiner Pensionierung«, sagte Donati und
versuchte, wie auch Alexander, sich einen Überblick
zu verschaffen.
Das Gelände rings um sie her war voller Carabinieri, insgesamt sechzig Mann, die sich zu eingespielten
Paaren zusammenfanden. Links von Alexander und
Donati hockte Prioletta, neigte sich zu dem Mikrophon, das am Kragen seines Overalls befestigt war,
und bellte mit wegen der Schutzmaske dumpfer
Stimme: »Phase eins: Licht!«
Aus vier tragbaren Granatwerfern wurden Leuchtgranaten abgefeuert, die das Gebiet in tagähnliches
Licht tauchten. Jetzt erkannte man deutlich den Gitterzaun mit dem ramponierten Tor, das nach dem
Ausbruch der Gefangenen nur notdürftig instand gesetzt worden war. Dahinter Fahrzeuge, Zelte und bewaffnete Männer.
»Phase zwei: Feuer!«
Wieder spuckten die Granatwerfer Geschosse aus,
diesmal Sprenggranaten, die in der Nähe des Gitterzauns
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