Engelsfuerst
trug.
»Hier, der wollte unbedingt bei dir sein. Er hat uns
schon einmal geholfen, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das vergessen?«
Sie nahm den Bären an sich und strich zärtlich über
sein Fell. Es war ein friedliches Bild, das Alexander
noch vor sich sah, als die Hubschrauber starteten und
Kurs nahmen auf den Tempel der Ahnen.
55
Im Tempel der Ahnen
D
ie Wachen umstellten Enrico und Lucius und
bedrohten sie mit ihren Maschinenpistolen, als
rechneten sie tatsächlich mit einem körperlichen Angriff.
Enrico dachte an das, was zwei Jahre zuvor am
Monte Cervialto geschehen war, an Vanessas Mut, als
sie in den Tod sprang und Kardinal Lavagnino mit
sich riß. Etwas Ähnliches würde hier nicht gelingen.
Aber das hatten sein Vater und er auch nicht vor. Sie
wollten Tommasio Lampada mit seinen eigenen Waffen schlagen, mit der Macht der Engel, die jedem von
ihnen innewohnte, wenn auch in unterschiedlicher
Ausprägung.
Und doch war ihm Vanessa in bestimmter Hinsicht
ein Vorbild: Sie hatte ihr Leben hingegeben, um das
Böse zu besiegen.
Obwohl er seinen Entschluß gefaßt hatte, spürte er
erneut jene tiefe Trauer, die ihn schon ein paar Stunden zuvor befallen hatte, in den Bergen, als sein Vater
ihm deutlich machte, welchen Weg sie zu gehen hatten.
Es war keine Angst. Enrico fürchtete sich nicht vor
dem Unbekannten, vor dem, was gemeinhin nebulös
als Jenseits bezeichnet wurde. Er hatte Vertrauen in
seinen Vater und in Gott.
Aber er hätte gern noch so viele Orte auf dieser
Welt gesehen, so viele Dinge getan, zu einem geliebten
Menschen Worte gesagt, die für immer unausgesprochen bleiben würden.
Um all das trauerte er – und um jede Stunde seines
Lebens, in der er sich nicht bewußt gewesen war, was
es bedeutete zu leben, zu atmen, ein Mensch zu sein. Du bringst ein Opfer, ein großes Opfer, Enrico. Das
gibt dir das Recht zu trauern. Aber denk daran, daß
durch dein Opfer alle anderen gerettet werden, auch
Menschen, die dir nahestehen. Sie und ihre Nachfahren können nur in Freiheit leben, wenn du stark bist.
Darüber solltest du glücklich sein, und das Glück wird
die Trauer überwinden.
Enrico zuckte zusammen wie unter einem Hieb.
Niemand hatte diese Worte laut ausgesprochen. Sie
waren in seinem Kopf, ähnlich den vielen Stimmen,
die er bislang verdrängt hatte, die aber stärker und
stärker wurden.
Jene Stimme aber, die eben zu ihm gesprochen und
so gewiß und tröstlich geklungen hatte, war um ein
vielfaches deutlicher gewesen.
Sein Blick fiel, wie von einer unsichtbaren Kraft geleitet, auf einen großen Steinengel, den, wie alle anderen Figuren auch, das, was sich vor zweitausend Jahren hier ereignet hatte, nicht unbeschadet gelassen hatte. Der linke Flügel fehlte zur Hälfte, und der linke
Arm war gleich unterhalb der Schulter abgebrochen.
Obwohl von Menschenhand aus Stein gehauen, erschien der Engel ihm lebendig. Vielleicht lag es an den
Augen, die sich zu bewegen und ihren Blick auf ihn
zu richten schienen.
Aber das war wohl nur eine optische Täuschung,
hervorgerufen durch einen chaotisch flackernden
Scheinwerfer. Oder sollte er glauben, daß sein Urahn,
der Erzengel Uriel, zu ihm gesprochen hatte?
Vor ihnen, am Rand des großen Schlunds, standen
Tommasio und sein Sohn, und beide breiteten wie auf
ein geheimes Kommando die Arme aus. Ihre ledernen
Schwingen entfalteten sich, und es sah aus, als wollten
sich zwei Riesenfledermäuse in den Abgrund stürzen.
»Luzifer, erhabener Engelsfürst, Träger des Lichts,
Ahnherr unseres Geschlechts, Herrscher über das irdische Reich, wir rufen Dich und die Deinen«, sprach
Tommasio mit weihevoller Stimme. »Vier Engelssöhne haben sich versammelt, und ihre Kraft soll die Deine sein. Fahre in uns, und nähre Dich von unserer
Macht, bis Du stark genug bist, Dein Licht über uns
leuchten zu lassen!«
Alle sahen abwartend zu dem schwarzen Schlund,
und Enrico begann schon zu glauben, Tommasios
Worte seien ungehört verhallt.
Quälend langsam verstrichen die Sekunden, wurden
zu Minuten, und nichts geschah. Reichte die Kraft der
versammelten Engelssöhne nicht aus, um die gefallenen Engel aus ihrem unfreiwilligen Schlaf zu erwekken? Vielleicht brauchten Enrico und Lucius doch
nicht bis zum Äußersten zu gehen!
Tommasio wiederholte seine Anrufung, und danach
veränderte sich binnen weniger Augenblicke alles. Der
Boden unter ihren Füßen schien zu erzittern, und aus
dem Schlund stieg etwas Gewaltiges, Mächtiges nach
oben. Etwas, das,
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