Engelsfuerst
mehr
Unruhe, und kurz darauf betrat Tommasio das Krankenzimmer, gefolgt von Giuseppe und Francesco.
»Zeit zur Abreise«, erklärte der Abt. »Die alten
Mauern sind die längste Zeit unser Heim gewesen.
Morgen wird man in San Gervasio nach Papst Lucius
suchen, dann werden wir nicht mehr hier sein.«
Lucius, der auf einem schmucklosen Holzstuhl neben dem Krankenbett gesessen hatte, erhob sich. »Enrico ist noch zu schwach. Er muß hierbleiben.«
»Damit er uns verrät?« Tommasio schüttelte den
Kopf. »Das kann ich nicht erlauben. Außerdem brauchen wir ihn und seine Begabung noch.«
»Warum?« fragte Lucius. »Ihr habt doch mich. Genügt das nicht?«
»Weshalb sich mit dem Vater zufriedengeben, wenn
man Vater und Sohn haben kann? Zwei von eurer
Sorte verfügen über größere Kräfte als einer.«
»Wozu braucht ihr diese Kräfte? Um das Engelsfeuer zu entfachen?«
Tommasio sah Lucius lange in die Augen. »Du
weißt es also, mein Bruder. Gut, dann bist du auf die
große Aufgabe vorbereitet.«
»Wir sind mitnichten Brüder!«
»Doch, das sind wir, weil unsere Ahnen es waren.
Sie waren Fürsten des Lichts, die an der Seite des
Herrn saßen und über seine Schöpfung wachten.«
»Bis der eine sich entschloß, sich gegen seinen
Herrn zu wenden«, sagte Lucius mit Abscheu in der
Stimme. »Aus dem Fürsten des Lichts wurde ein Fürst
der Dunkelheit, und da hörten unsere Ahnen auf,
Brüder zu sein.«
»Du hast recht, Luzifer und Uriel standen in verfeindeten Lagern. Zu lange schon dauert diese Feindschaft. Es wird Zeit, die entzweiten Engelssöhne zu
vereinen!«
»Aber nicht, um das Engelsfeuer zu entfachen. Gott
hat die gefallenen Engel verbannt, und in der Verbannung müssen sie bleiben.«
In Tommasios Augen flackerte Zorn auf. »Gott
glaubte den Einflüsterungen Uriels und der anderen
Erzengel und stellte sich gegen Luzifer. Das war der
Fehler unseres Herrn, und diesen Fehler müssen wir
korrigieren, bald schon!«
Lucius sah den Abt fassungslos an. »Wären deine
Kräfte und deine Pläne nicht so gefährlich, du wärst
eine lächerliche Figur! Du unterstellst Gott einen Fehler und maßt dir an, ihn zu korrigieren? Noch nie im
Leben bin ich solcher Überheblichkeit begegnet!«
»Gott gab den Menschen die Macht, über ihre Welt
zu herrschen. Er schenkte ihnen die Freiheit des eigenen Willens. War das kein Fehler? Sieh dir doch an,
was sie daraus gemacht haben! Jahrtausende voller
Kriege und Morde. Alexander der Große und Julius
Caesar, Karl der Große und Dschingis-Khan, Friedrich der Große und Napoleon Bonaparte, Mussolini,
Hitler, Stalin. Eine endlose Liste. Und wie sieht es
heute aus? Terrorgruppen aus Ländern der sogenannten dritten Welt überziehen die erste Welt mit Anschlägen, und die Regierungen der ersten Welt bomben jedes Regime aus dem Weg, das ihnen oder den
Konzernen, von denen sie bezahlt werden, nicht paßt.
Ist das die Welt, die Gott gewollt hat?«
»Ausgerechnet ein Sohn Luzifers moralisiert«, stellte Lucius kopfschüttelnd fest.
»Arroganz ist die Waffe derjenigen, denen die Argumente fehlen«, fuhr Tommasio mit schneidender
Stimme fort. »Aber Hochmut kommt vor dem Fall,
wie es schon in den Sprüchen Salomos heißt.«
»Und wofür Luzifer das beste Beispiel ist«, konterte Lucius. »Hätte er mit seiner Revolte obsiegt, wäre
die Welt heute eine andere, eine bessere. Die Menschen würden strenge Gesetze befolgen und nicht
daran denken, sich gegenseitig abzuschlachten und
einander die Luft abzuschnüren.«
»Die Menschen hätten keinen eigenen Willen, müßten sich der Diktatur Luzifers unterwerfen!«
»Und?« fragte Tommasio gedehnt. »Was wäre daran so schlimm?«
Lucius lächelte, aber es war ein kaltes, abweisendes
Lächeln. »Deine Beredsamkeit ist erstaunlich. Wenn
die Schlange, die Eva im Paradies beschwatzt hat,
auch nur annähernd so begabt war, konnte Adams
Weib ihr kaum widerstehen. Du klagst Diktatoren
wie Caesar, Bonaparte, Hitler und Stalin an, zu
Recht, aber wenige Atemzüge später schwärmst du
vom größten Diktator, den die Welt nur fürchten
kann, dem, der die gesamte Menschheit unterjocht!
Eben das hat Gott nicht gewollt, als er dem Menschen
seinen freien Willen zugestand. Der Mensch hat das
Recht, Fehler zu begehen und zu sündigen, denn nur
daraus kann Einsicht und Reue entstehen. Der einzige
Weg, der den Menschen zu einem besseren Wesen
werden läßt.«
»Zu einem engelsgleichen Wesen? Wolltest du das
sagen, Lucius?«
»Du kannst es
Weitere Kostenlose Bücher