Engelsfuerst
so sehen.«
Tommasio lachte höhnisch. »Wie naiv! Sieh dich
um in der Welt, öffne deine Augen, dann wirst du erkennen, wie weit der Mensch von diesem Ziel entfernt
ist. Weiter denn je, wie mir scheint!«
»Glaubst du, das hat Gott nicht berücksichtigt?
Vielleicht hat der Mensch die Talsohle noch nicht
durchschritten. Aber auch wenn der Weg lang und
steinig ist, er muß ihn beschreiten. Viele Menschen
haben schon ein gutes Stück zurückgelegt. Nicht nur
die Schreckgespenster, die du aufgezählt hast, bevölkern die Seiten der Geschichtsbücher. Vergiß nicht
Menschen wie Jesus, Florence Nightingale, Mahatma
Gandhi, Albert Schweitzer oder Mutter Teresa!«
»Das gute Beispiel einiger weniger kann nicht die
Schandtaten vieler aufwiegen. Armeen, die Tod und
Zerstörung bringen, bestehen heute aus Millionen von
Soldaten, und Millionen von Menschen arbeiten in
Forschung und Industrie daran, immer effektivere
Waffen herzustellen.«
»Aber auch diese Millionen bekommen nur von einigen wenigen gesagt, was sie zu tun und zu lassen
haben, von Staatschefs und Ministern, von Konzernvorständen und Generälen. Nur wenige sind die Verführer, und viele sind die Verführten. Und du, Tommasio, machst dich stark für den größten Verführer
von allen!«
»Unsere Diskussion dreht sich im Kreis. Wir sollten sie später fortführen, wenn wir mehr Ruhe haben.« Tommasio wandte sich an seine Begleiter.
»Francesco hilft Enrico, wenn er noch zu schwach dazu ist, allein zu gehen. Du, Giuseppe, wirfst ein wachsames Auge auf alles.«
»Das werde ich«, versprach Giuseppe, der einen
Kopfverband trug, und hob die rechte Hand, in der er
einen kurzläufigen Revolver hielt.
»Dann sehen wir uns bei den Wagen«, sagte Tommasio und verließ das Krankenzimmer.
Lucius blickte besorgt auf seinen Sohn. »Enrico
sollte saubere Kleider anbekommen. In den verschwitzten Sachen könnte er sich den Tod holen.«
»Ich bringe die Sachen aus seiner Zelle«, sagte Francesco und eilte davon. Schon kurz darauf kehrte er mit
Enricos Reisetasche zurück. Gemeinsam halfen Lucius und Francesco Enrico beim Umziehen, aber Francesco vermied es die ganze Zeit, einem der beiden anderen in die Augen zu sehen.
Als von draußen lautes Hupen ertönte, knurrte
Giuseppe: »Beeilt euch, wir können hier nicht die
ganze Nacht vertrödeln!«
Enrico war noch sehr schwach. Als er versuchte,
sein Hemd zuzuknöpfen, zitterten seine Hände derart, daß er die Aufgabe dankbar seinem Vater überließ. Nur weil Lucius und Francesco ihn in die Mitte
nahmen, bewältigte er den Weg zum Klosterhof.
Dort warteten vier große Lieferwagen, alle vom
selben Typ, mit laufenden Motoren und abgeblendeten Scheinwerfern. Der Mercedes-Geländewagen
stand mit zerschossenen Scheiben daneben und sollte
offenbar beim Kloster zurückgelassen werden. Die
vier Männer stiegen in den hinteren Teil eines Lieferwagens, in dem ein paar Kisten verstaut waren, und
machten es sich so bequem, wie nur möglich. Enrico
legte sich hin und bettete den Kopf in den Schoß seines Vaters.
Der hagere Ambrosio erschien und blickte in den
Wagen.
»Mach die Tür zu, Ambrosio«, rief Giuseppe ihm
zu. »Von uns aus kann es losgehen.«
Ambrosio schloß die Hintertür des Lieferwagens,
und keine Minute später setzten sich die Fahrzeuge in
Bewegung. Giuseppe schaltete eine flackernde Funzel
an, die den fensterlosen Innenraum nur spärlich erhellte.
Es ging die gewundene Bergstraße hinab, soviel
stand für Lucius und Enrico fest, denn es gab nur diesen einen Weg vom Kloster hinunter ins Tal. Aber
wohin der Konvoi sich dann wandte, blieb ungewiß.
Es mußte eine abgelegene, wenig befahrene Straße
sein. Gegenverkehr schien es nicht zu geben, und die
Wagen rollten langsam über eine unebene Fahrbahn.
Allmählich gewöhnten sie sich daran, von Schlagloch
zu Schlagloch zu holpern.
Immer dann, wenn Giuseppe nicht hinsah, warf
Francesco Enrico und Lucius verstohlene Blicke zu,
aber was ihn dazu bewog, wurde nicht deutlich. War
es die bloße Scham angesichts des Verrats, den er an
Enrico geübt hatte? Oder steckte mehr dahinter?
Wollte er ihnen etwas mitteilen?
36
Nördlich von Rom
D
er Mann in der engen Kabine blickte müde auf
die beiden Frauen in dem dunklen Audi, einem
der wenigen Wagen, die um diese Uhrzeit auf die Autobahn wollten. Ihm war anzusehen, daß es für ihn alles andere als ein Vergnügen war, zu fast mitternächtlicher Stunde seinen Dienst zu verrichten. Gähnend
nannte er den
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