Engelsfuerst
geglättet, und für einen unachtsamen Betrachter konnte sie leicht mit dem Berg verschmelzen.
Tommasio bewegte sich sicher auf der Treppe,
während Enrico sorgsam darauf achtete, nicht durch
einen falschen Schritt abzurutschen und in den Abgrund zu stürzen. Hier zerrte der Wind noch stärker
an ihnen, und Enrico schätzte sich glücklich, normale
Kleidung zu tragen. Die Kutte des Abts flatterte so
wild im Wind, daß Enrico befürchtete, Tommasio
könne der Naturgewalt nicht widerstehen. Aber der
Abt gelangte unbehelligt auf ein winziges Plateau, von
dem aus eine dunkle Öffnung in den Berg hineinzuführen schien.
»Eine Höhle?« fragte Enrico, als auch er das Plateau
erreichte.
»Ja«, sagte Tommasio nur und trat in das finstere
Loch.
Enrico folgte ihm und fragte sich, was der Abt hier
wollte, wo doch keiner von ihnen eine Lampe dabeihatte.
Daß das allerdings kein Problem darstellte, erkannte er schon nach wenigen Schritten. Nach einer Biegung bemerkte er einen Lichtschein, der mit jedem
Schritt heller wurde. In der Decke der Höhle klaffte
eine große Öffnung, durch die das Licht des erwachenden Tages fiel. Es schien auf das Ende der Höhle,
eine fast glatte Wand, auf die ein mannshohes Bild
gemalt war. Ein altes Bild, sehr verblaßt, aber noch
immer deutlich zu erkennen. Enrico stockte der
Atem. Es war eine antike Straßenszene, ein Menschenauflauf. Inmitten einer aufgebrachten Menge erwehrte sich eine auffällig hellhaarige Frau ihrer Haut.
Enrico war schockiert. Niemals zuvor war er in dieser Höhle gewesen, er hatte das Bild noch nie gesehen,
und doch …
Leise sagte er: »Diese Szene stammt aus meinem
Traum!«
4
Rom
A
uf dem kleinen Gang der Polizeikrankenstation
saß eine junge Beamtin in Uniform auf einem
Stuhl und starrte Löcher in die Luft. Als sie Alexander
und Donati bemerkte, zuckte sie zusammen, ihre Haltung straffte sich, und sie blickte Donati schüchtern an.
Der Dirigente blieb vor ihr stehen und deutete auf
die Tür, neben der sie saß. »Liegt hier die Inhaftierte
Vida?«
Während die Polizistin noch eifrig nickte, spürte
Alexander ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen. Es
gefiel ihm nicht, daß Donati von der Inhaftierten Vida
sprach. Verzweifelt fragte er sich, was in der vergangenen Nacht vorgefallen sein mochte. Aber wenn er
ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß sein Unwohlsein auch aus der Vorstellung resultierte, Elena
gleich gegenüberzustehen.
Laute, erregte Stimmen drangen auf den Gang, ein
Mann und eine Frau. Alexander mußte an seinen zwei
Monate zurückliegenden Streit mit Elena denken.
»Wer ist noch da drin?« fragte Donati.
»Commissario Bazzini.«
Bevor die Polizistin noch ganz ausgesprochen hatte,
riß Donati schon die Tür auf.
Alexanders Blick fiel auf das Krankenbett, in dem
Elena lag, einen Verband um den Kopf. Er las Verwirrung in Elenas Augen und, so glaubte er, Wut. Bazzini, der mit verschränkten Armen neben dem Bett
stand, wirkte ebenfalls verwirrt und wütend.
Seine Verwirrung hatte mit Donatis Erscheinen zu
tun – und seine Wut vielleicht ebenso. Auch er hatte
sich Hoffnungen auf den Posten eines Dirigente Superior der neuen Dienststelle gemacht und war noch
nicht darüber hinweg, daß Donati ihm vorgezogen
worden war. Donati selbst hatte Alexander davon erzählt.
»Buon giorno, Signor Dirigente«, sagte Bazzini
förmlich. »Was führt Sie in die Krankenstation?«
»Die Kranke«, erwiderte Donati knapp und wandte
sich Elena zu. »Wie fühlst du dich?«
Alexander und Elena waren mit Donati befreundet;
daß sie sich nun in Polizeihaft befand, brachte ihn in
eine seltsame Lage.
Elena legte eine Hand an ihren verbundenen Kopf.
»Da drin wütet noch ein Hornissenschwarm und will
einfach keine Ruhe geben. Sonst ginge es mir ganz
gut, wenn Commissario Bazzini mir nicht auf Teufel
komm raus einen Mord anhängen wollte.«
»Ich will Ihnen nichts anhängen und muß das auch
gar nicht, denn Ihre Täterschaft steht für mich außer
Frage«, knurrte Bazzini. »Je eher Sie gestehen, desto
milder wird Ihre Strafe ausfallen.«
»Aber warum sollte ich Monsignore Picardi ermorden?«
»Ja, warum?« wiederholte Bazzini. »Sagen Sie es
mir, Signorina Vida!«
Als sie schwieg, fragte Donati: »Was hat sich in der
vergangenen Nacht zugetragen, Elena?«
»Picardi hat mich spätabends angerufen und zu einem Treffen am alten Annenkloster bestellt. Ich bin
also hin durch das verfluchte Unwetter, aber bei
Sant’Anna fand sich weit und breit keine
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